Die Strategie der Gewalt

Gewalt ist für die Rechte Bestandteil der eigenen Identität. Ob und wie sie eingesetzt wird, ist keine Frage des Prinzips, sondern der Umstände. Dies zeigt ein Überblick über die sich wandelnde und doch in ihrem Kern gleichbleibende Strategie rechter Gewalt.

Gewaltexzesse als Rache

Die Kolonialkriege und der Völkermord an den Herero und Nama

Die Wurzeln rechter Gewalt reichen weit zurück. Die enthemmte Gewalt, die sich ab 1918 in dem Wüten der Freikorps zeigt, hat ihre Vorläufer. Zur Vorgeschichte gehören die Kolonialkriege, insbesondere der Völkermord an den Herero und Nama und die Massaker bei der Niederschlagung des Maji-Maji Aufstandes in Deutsch-Ostafrika. Bei diesen Gewaltexzessen wird auch die unbeteiligte Zivilbevölkerung wahllos für einen Aufstand gegen die deutschen Kolonialherren bestraft. Ziel ist die weitgehende Vernichtung der Angehörigen beider Völker. Dazu werden Kinder, Frauen und Männer in die Wüste getrieben, um zu verdursten.

Die Freikorps

Nach dem ersten Weltkrieg sind es die Freikorps – und oft auch reguläre Einheiten der Reichswehr –, die auf Rache für die Niederlage sinnen, für die sie die „Novemberverbrecher“ verantwortlich machen, die dem „im Felde unbesiegten“ Heer in den Rücken gefallen seien. (1) Die Gelegenheit zur Rache ergibt sich durch die Niederschlagung des Spartakus-Aufstandes, der Münchner Räterepublik oder des Arbeiteraufstandes an der Ruhr. Die weitaus meisten Morde und Gewalttaten ereignen sich dabei nicht bei Kampfhandlungen, sondern danach, als ganze Stadtviertel nach Verdächtigen durchkämmt werden und die große Stunde der Denunzianten schlägt. Oft überlappen sich die Motive der marodierenden Soldateska, so dass nicht mehr zu unterscheiden ist, ob die Morde politischer Feindschaft oder der Lust am Quälen und Töten entspringen oder das eigentliche Ziel darin besteht, die Ermordeten zu berauben. (2)

So unterschiedlich die konkreten Motive auch sind – den Gewalttaten liegt stets ein menschenfeindliches Weltbild zugrunde, das in „Wir“ und „Andere“ unterscheidet, den „Anderen“ jeglichen Wert und menschliche Würde abspricht und in dessen Vernichtung das selbstverständliche Recht des Stärkeren und eine Notwendigkeit im Kampf ums Überleben sieht. Insofern sind Gewaltexzesse kein Auswuchs radikal rechten Denkens, sondern dessen Kern. Dies bestätigt sich in den folgenden 100 Jahren rechter Gewalt immer wieder.

Gewalt als Provokation – die Strategie der Organisation Consul

Die Organisation Consul (O.C.) hat nach dem Scheitern des Kapp-Lüttwitz-Putsches dessen Lehren aufgearbeitet. Sie rückt von den archaischen Gewaltexzessen der Freikorps ab. Für sie ist Gewalt nunmehr kein Selbstzweck, sondern Teil einer politischen Strategie. (3)

Die Organisation Consul (O.C.) entsteht aus der Brigade Ehrhardt, einem schwer bewaffneten Freikorps mit elitärem Selbstverständnis. Als die Brigade 1920 entsprechend den Bestimmungen des Versailler Vertrags entwaffnet werden soll, putscht sie mit Unterstützung von Reichswehreinheiten gegen die gewählte Regierung. Nach dem Scheitern des Putsches bietet die rechtsgerichtete bayerische Regierung ihren Führern Asyl und Gelegenheit, ihre Brigade, die sie nun Organisation Consul nennen, zu reorganisieren. Von der „Ordnungszelle Bayern“ aus kann die Organisation Consul unbehelligt Morde an Repräsentanten der Weimarer Republik planen und ausführen.

Aus dem Scheitern des Kapp-Lüttwitz-Putsches zieht die Führung der O.C. zwei weitreichende Schlüsse. Der erste Schluss ist, dass zur Beseitigung der Demokratie nicht nur Freikorps und einzelne Reichswehreinheiten, sondern die Führung der Reichswehr erforderlich ist. Dies soll durch eine Provokationsstrategie erreicht werden. Die O.C. organisiert die Morde an Matthias Erzberger, Walter Rathenau, das Attentat auf Philipp Scheidemann und weitere Anschläge mit dem Ziel, einen Aufstand der Linken auszulösen. Dieser Aufstand soll dann die Führung der Reichswehr veranlassen, militärisch einzugreifen, Ordnung zu schaffen und dabei die demokratische Republik zu beseitigen. Diese Provokationsstrategie wird später immer wieder aufgegriffen. (4)

Eine zweite Lehre ist, dass Gewalt nicht wahllos und zufällig, sondern zielgerichtet und organisiert eingesetzt werden soll. Mit diesem Ziel entsteht ein Netz regionaler Kommandos, die sich bewaffnen und organisieren, potentielle Gegnerinnen und Gegner beobachten und erfassen, um so in der Stunde X gezielt mögliche Widersacherinnen und Widersacher ausschalten zu können. Das Ergebnis sind Feindes- und Todeslisten, die rechte Terroristen auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder zusammenstellen.

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Angehörige der Brigade Ehrhardt beim Kapp-Lüttwitz-Putsch

Hitler und die Klaviatur der Gewalt

Hitler beherrscht das Spiel auf der Klaviatur der Gewalt wie kein anderer. Er setzt sie virtuos entsprechend seinen jeweiligen Zielen und der gegebenen Situation ein:

  • Während die SA durch offene Straßengewalt politische Gegnerinnen und Gegner bekämpft und Menschen jüdischer Herkunft drangsaliert, gibt er den zivilisierten Staatsmann, der die Macht auf legale Weise erobern und nutzen will. Gleichzeitig gewinnt er viele Unterstützerinnen und Unterstützer durch die unterschwellige Erwartung, die SA werde nach der Ergreifung der Macht mit Kommunistinnen und Kommunisten und Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten „aufräumen“
  • Antijüdische Attacken werden vor und während der Olympischen Spiele 1936 kurzzeitig ausgesetzt, um der Welt ein positives Bild vom nationalsozialistischen Deutschland zu bieten. Nach den Spielen werden die Angriffe auf die jüdischen Deutschen wieder aufgenommen und eskalieren 1938 in den Novemberpogromen.
  • Während Kommunistinnen und Kommunisten in den Konzentrationslagern gefangen gehalten, gequält und getötet werden, schließt Hitler mit dem Repräsentanten der „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“, Josef Stalin, einen Nichtangriffspakt, den er bei nächster Gelegenheit bricht.

Währenddessen laufen die Vorbereitungen für den Krieg, der diesmal erfolgreich sein soll. Deshalb haben sich Hitler und die Führung der NSDAP intensiv mit den Gründen für die Niederlage im Ersten Weltkrieg beschäftigt. Anders als in der offiziell propagierten Dolchstoßlegende kommen sie dabei zu folgendem Ergebnis: Deutschland sei aufgrund der Bevölkerungszahlen und seiner Ressourcen strukturell den Siegermächten des ersten Weltkriegs unterlegen. Ein dauerhafter Sieg erfordere rasche Anfangserfolge, die es ermöglichen, sich schnell und umfassend die Ressourcen, vor allem Nahrungsmittel und Energie, aus den eroberten Gebieten anzueignen. Dabei sei besonders im Osten die Dezimierung, Vertreibung und Versklavung der einheimischen Bevölkerung anzustreben und das Verhungern von Millionen Menschen in Kauf zu nehmen. Um diese Ziele mit möglichst geringem personellem Aufwand zu erreichen – schließlich soll „die Front“ nicht geschwächt werden – sollen Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten morden und die Militärverwaltung bei deren Ausplünderung unterstützen.

Mord und Terror werden nun nicht mehr taktisch dosiert, sondern massenhaft, bewusst willkürlich, und mit demonstrativer Brutalität eingesetzt, um mit geringen Kräften einen möglichst hohen Abschreckungseffekt zu erzielen und jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Dasselbe Konzept des grenzenlosen und willkürlichen Terrors wird auch in den Konzentrations- und Vernichtungslagern angewandt, um mit relativ kleinen Wachmannschaften eine große Zahl von Menschen deportieren, quälen und töten zu können. (5)

„Werwölfe“

1945, als die alliierten Streitkräfte auf das Gebiet des Deutschen Reiches vorgedrungen sind, als Hitler Greise und halbe Kinder für die Illusion vom „Endsieg“ sterben lässt, als vormals überzeugte Nazis ihre Parteibücher verbrennen und ihre Hitler-Portraits verschwinden lassen, als die Vernichtungslager aufgelöst und die überlebenden Häftlinge auf Todesmärsche geschickt werden, hat der Reichsführer SS Heinrich Himmler eine letzte Idee, wie die Nationalsozialisten nach der militärischen Niederlage weiter agieren können. Er ruft zur Gründung von „Werwolf“ Gruppen auf, die hinter den feindlichen Linien Sabotageakte begehen und so die Alliierten zum Rückzug zwingen.

Der von Himmler ersehnte Volksaufstand bleibt allerdings aus. Einzig der Mord an dem Bürgermeister Franz Oppenhoff im amerikanisch besetzten Aachen lässt sich für die NS-Propaganda ausschlachten. Weitere Anschläge richten sich gegen die eigenen „Volksgenossen“: gegen „Deserteure“, die sich dem „Volkssturm“ entziehen, gegen „Schädlinge“, die am Endsieg zweifeln oder „Feindsender“ hören.

In den letzten Tagen des Krieges beschwört Goebbels nochmals die „Bewegung nationalsozialistischer Freiheitskämpfer“. Für die Werwölfe sei

jeder Bolschewist, jeder Brite und jeder Amerikaner auf deutschem Boden Freiwild. Wo immer wir eine Gelegenheit haben, ihr Leben auszulöschen, werden wir das mit Vergnügen und ohne Rücksicht auf das eigene Leben tun.

Der Werwolf sei an keine humanitären Beschränkungen gebunden. Er halte selbst Gericht und „entscheidet über Leben und Tod“. (6)

Obwohl die Werwolf-Gruppen militärisch bedeutungslos bleiben, entfaltet Goebbels‘ Hetze in den folgenden Jahrzehnten ihre Wirkung. Goebbels erklärt rechte Mörder zu Freiheitskämpfern und ermächtigt sie, zugleich Richter und Henker zu sein. Umgekehrt erklärt er die Opfer für wertlos. Damit nimmt er den Tätern jeglichen Skrupel. Die Worte des Joseph Goebbels werden besonders nach 1990 von rechten Skinheads und Neonazis in die Tat umgesetzt.

Einige Jahrzehnte später wird aus der Propagandafigur des Werwolfs der Typus des „einsamen Wolfes“, der sich wie etwa die NSU-Terroristen heimlich seine Opfer sucht und unerkannt zuschlägt. Zugleich ist die Idee des Werwolfs Vorgänger der Konzeption des „führerlosen Widerstands“.

Nationalsozialistischer Untergrund – nicht erst seit 2000

Längst nicht alle Nazis haben nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ihre Überzeugungen aufgegeben. Sie versuchen, sich zu vernetzen und neue Strukturen zu bilden – teils in geheimen Seilschaften, teils in neuen Verbänden und Parteien. Eine Schlüsselrolle spielt zunächst die offen nazistische Sozialistische Reichspartei, die 1952 verboten wird. Allerdings folgen auf Verbote immer wieder Neugründungen wie die der „Wiking-Jugend“, die bis zu ihrem Verbot 1994 die zentrale Anlaufstelle für eine Vielzahl von Neonazis wird.

Die alten und neuen Nazis müssen sich neu orientieren. Sie erproben mit begrenztem Erfolg unterschiedliche Strategien, können aber nicht verhindern, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland ein demokratisches System etabliert. Die Reaktion ist die Gründung der NPD als Sammlungsprojekt der Rechten. Es gelingt ihr, in mehrere Landesparlamente und eine Reihe kommunaler Parlamente einzuziehen.

1969 verfehlt die NPD jedoch den Einzug in den Bundestag. Die Gegensätze in der Rechten brechen erneut auf. Gewaltbereite Aktivisten erklären die Strategie, nach dem Vorbild Adolf Hitlers auf legale Weise Einfluss zu gewinnen und eine Übernahme der Macht vorzubereiten, für gescheitert. Sie setzen zunehmend auf militante und bewaffnete Kameradschaften, paramilitärische Verbände, Wehrsport- und Aktionsgruppen und Gewalttaten nach dem Werwolf-Mythos.

Migrant*innen, Geflüchtete und Asylbewerber*innen geraten zunehmend in das Visier der militanten Rechten. Der frühere SS-Offizier Arthur Ehrhardt veröffentlicht in seiner Zeitschrift „Nation Europa“ einen Nachdruck der „Werwolf-Fibel“. Ehrhardt schreibt von einem drohenden „Genozid“ durch eine „Überfremdung“, die zum „Volkstod“ führe. Der Rechtsterrorist Peter Naumann bezeichnet die Einwanderung als „biologische Kriegsführung gegen das deutsche Volk“. (7)

Einwanderung als „biologische Kriegsführung“? Was zunächst als rhetorische Überspitzung eines rechten Terroristen erscheint, hat im militant rechten Denken seinen festen Platz. Eine zentrale Kategorie ist dort die „Reinheit des Blutes“ als Voraussetzung für das Überleben eines Volkes. Wo immer diese „Reinheit des Blutes“, die „Erbgesundheit des Volkes“, die „Volksgemeinschaft“ und die „kulturelle Identität“ bedroht sind, ist eine „Reinigung“ erforderlich, die den „Volkskörper“ von „Schmutz“ und „Krankheitserregern“ befreit und dadurch wieder gesunden lässt. Diese Reinigung umfasste in der nationalsozialistischen Vergangenheit die biologische, politische und kulturelle Säuberung des Volkskörpers von Jüd*innen, Sinti*zze und Rom*nja, Menschen mit Behinderung, Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen, „Asozialen“, Homosexuellen und „entarteten Künstlern“. In dieses Raster passen exakt auch Migrant*innen, Asylbewerber*innen und Geflüchtete, die die ethnische Homogenität der Bevölkerung auflösen, die Gefahr einer „Rassenvermischung“ mit sich bringen und die deutsche Kultur durch eine „Mischkultur“ ersetzen. Rechte aller Schattierungen sehen darin eine „existentielle Bedrohung“, die eine entsprechende „Notwehr“ legitimiert.

Die Behauptung, Migration und Flucht seien eine „biologische Kriegsführung“, mündet einige Jahrzehnte später in der Theorie vom „Großen Austausch“. Die Lüge vom „Großen Austausch“ lädt die Hirngespinste der Terroristen der 80er Jahre mit der Verschwörungsfantasie auf, ein solcher Austausch sei von den „Eliten“ bewusst gesteuert, um das eigene Volk durch eine fremde, aus aller Welt gekommene Bevölkerung zu ersetzen.

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Neonazi-Aufmarsch in München am 2. April 2005

„Es ist Wolfszeit“ schreiben rechte Terroristen. Den Worten folgen Taten. 1980 wird zum Jahr des rechten Terrors. Bei einem Brandanschlag der „Deutschen Aktionsgruppe“ Roeder, Hoernle und Vorderbrügge werden die ersten Geflüchteten in der Bundesrepublik Deutschland ermordet. Im selben Jahr finden in München beim Oktoberfest-Attentat und in Erlangen beim Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke weitere 15 Menschen den Tod. Der Anschlag auf Shlomo Lewin und Frida Poeschke ist der erste bekannt gewordene antisemitische Mord in der Bundesrepublik durch rechte Extremisten. Ein weiterer rechter Terrorist erschießt beim Waffenschmuggel über den Rhein zwei Polizisten.

Die Wiedergeburt des Straßenterrors

1990, nach der deutschen Wiedervereinigung beginnt besonders in den neuen Bundesländern eine Welle rechter Gewalt. Diese Gewalttaten sind nicht wie in den Jahrzehnten vorher konspirativ, sondern offener Straßenterror, der an die Freikorps und die SA erinnert. Ziel der Attacken ist, mögliche Gegner*innen und Widersacher*innen durch demonstrative Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung einzuschüchtern und so die Vorherrschaft auf der Straße zu gewinnen. Ein wesentlicher Aspekt des Straßenterrors ist seine Willkürlichkeit und Zufälligkeit: da in den von Rechten kontrollierten Gebieten niemand, der zu den erklärten Feind*innen gehört, vor Angriffen sicher ist, ist der Einschüchterungseffekt umso größer. Die Täter*innen benötigen keine Planungen. Sie machen sich aus der Situation heraus, aufgeladen mit Feindbildern, Hass und oft auch Alkohol, zum „Richter und zum Henker“.

Das Signal für den Straßenterror geben die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Anwohner*innen applaudieren den Attacken auf Asylbewerber*innen und Arbeitsmigrant*innen und behindern Feuerwehr und Rettungssanitäter*innen, während die Polizei zusieht und der Staat nachgibt und die „Fremden“ aus der Stadt entfernt. Die Lektion lautet:

Gewalt bringt Beifall
Gewalt bringt Erfolge
Die Täter bleiben straffrei
Also:
Gewalt lohnt sich

Nachdem auf diese Weise Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen „ausländerfrei“ gemacht wurden, werden in den folgenden Jahren mehr als 200 Menschen zu Tode gebracht, um auch weitere Gebiete „ausländer- und zeckenfrei“ zu machen.

„White Supremacy“, „führerloser Widerstand“ und „Rassenkrieg“

Inzwischen hat sich die Strategiediskussion der Rechten weiterentwickelt. Diese Diskussion hat sich in Zeiten des Internets zunehmend internationalisiert. Dabei wird der Einfluss der US-amerikanischen Rechten immer deutlicher.

Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff der „White Supremacy“. Diese Theorie geht von einer natürlichen Ordnung aus, in der es eine Hierarchie der „Rassen“ gäbe. Dabei stehen der „höherwertigen weißen Rasse“ die „minderwertigen nicht-weißen Rassen“ gegenüber. Diese „minderwertigen Rassen“ seien den „Weißen“ zahlenmäßig weit überlegen und stellten zunehmend die weiße Vorherrschaft in Frage. Sie seien durch Migration und Flucht in die Heimat der Weißen eingedrungen und hätten sich mit Teilen der weißen Bevölkerung vermischt. Die Widerstandskraft der eigentlich überlegenen Weißen gegen diesen Ansturm sei durch die Demokratie, den Egalitarismus, den Liberalismus, die Menschenrechte und den Feminismus geschwächt. Um den unausweichlichen „Rassenkrieg“ mit den „minderwertigen Rassen“ und dem im Hintergrund die Fäden ziehenden „internationalen Judentum“ zu gewinnen, müsse die „weiße Rasse“ zu einer wehrhaften Männlichkeit zurückfinden und die zersetzenden Ideen, Strukturen und Kräfte beseitigen.

Als besonders geeignete Aktions- und Kampfform in der ersten Phase des „Rassenkrieges“ wird das Konzept des „führerlosen Widerstands“ propagiert. Der Begriff geht auf den amerikanischen Neonazi und Ku-Klux-Klan Anführer Louis Beam zurück. Nach Beam sind Strukturen, wie sie traditionell für die Rechte kennzeichnend sind, ungeeignet, weil sie leicht zu überwachen und zu zerschlagen sind. Stattdessen sollten sich rechte Terrorist*innen in kleinen Zellen zusammenschließen, die unabhängig voneinander agieren oder als Alleintäter*innen handeln. So könne ein Netz des Widerstands entstehen, das für die Sicherheitsbehörden nicht zu kontrollieren sei. Die Thesen Beams wurden in den „Turner Diarys“ mit der Werwolf-Propaganda verknüpft. Mit dem „Hunter“ (8) entsteht die pseudoliterarische Figur eines „einsamen Wolfes“, der aus rassistischen Motiven Opfer auswählt und tötet.

In dieser ersten Phase geht es vorrangig darum, durch terroristische Aktionen Angst zu verbreiten und die Demokratie zu destabilisieren. Die Zurschaustellung terroristischer Attacken und Morde vor einem Millionenpublikum im Internet soll zugleich wirkmächtige Bilder und Symbole schaffen, die zur Entstehung weiterer Terrorzellen und zu neuen Anschlägen führen. Die sozialdarwinistische Rhetorik eines „Überlebenskampfes“, im dem die „weiße Rasse“ bestehen oder untergehen wird, soll terroristische Gewalt zur unvermeidlichen „Notwehr“ erklären und mögliche Nachfolgetäter*innen enthemmen. Sind in dieser ersten Phase genügend aktive, gewaltbereite, bewaffnete und organisierte Zellen entstanden, die Zivilgesellschaft paralysiert und der demokratische Staat geschwächt, können sich nach dem Konzept des führerlosen Widerstandes die bisher autonom agierenden Zellen zusammenschließen und den entscheidenden Schlag führen. Letztliches Ziel ist die Schaffung eines „ethnisch gesäuberten“ Staates der Weißen und als Übergang die Herrschaft der Weißen gegenüber den anderen Bevölkerungsgruppen.

Der Begriff der „White Supremacy“ stammt ursprünglich aus den USA. Er beschreibt Ideologie und Praxis der Herrschaft der Sklavenhalter über die nach Amerika verschleppten Afrikaner*innen und deren Nachkommen. Die „White Supremacy“ wird auch nach der Abschaffung der Sklaverei 1865 besonders im Süden der USA fortgesetzt und von dem Geheimbund Ku-Klux-Klan mit zahlreichen Gewaltakten verteidigt. Mit der Internationalisierung rechten Denkens und rechter Gewalt wird die Vorstellung einer bedrohten weißen Vorherrschaft zu einer Plattform, auf der sich

britische Skinheads, amerikanische Ku-Klux-Klan Anhänger und deutsche Neonazis vernetzen und grenzübergreifende Allianzen bilden“ können. (9)

Das Neonazi-Netzwerk „Blood and Honour“ spitzt das Konzept des „führerlosen Widerstands“ noch stärker antisemitisch zu. Die westlichen Regierungen seien nicht nur unfähig, die Bedrohung der weißen Vorherrschaft zu erkennen und zu beenden, sondern in Wirklichkeit Marionetten der Jüd*innen. Die „Zionist occupied governments“, kurz ZOG, strebten die „Ausrottung der Arier“ an. Auch aus dieser Perspektive ist rassistische und antisemitische Gewalt Notwehr, die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf.

Die Ausrichtung der Strategie der Rechten an terroristischen Konzepten ist allerdings nicht unumstritten. Einen anderen Weg will die „Identitäre Bewegung“ gehen, die 2012 in Frankreich und 2014 in Deutschland entsteht. Die „Identitäre Bewegung“ will ebenfalls einen ethnisch homogenen Staat erreichen, setzt aber statt auf terroristische Gewalt auf eine „kulturelle Hegemonie“. Diese kulturelle Hegemonie soll dadurch erreicht werden, dass die Rechte Feindbilder und Vorurteilsstrukturen aus der Mitte der Gesellschaft aufgreift und schrittweise radikalisiert. Allerdings sollte man die taktischen Differenzen der Rechten nicht überbewerten und damit ihre grundlegenden Gemeinsamkeiten in Bezug auf Rassismus, Sozialdarwinismus, Antifeminismus und Antisemitismus relativieren.

Liste rechtsterroristischer Anschläge seit 2011

Der Übergang von rechter Gewalt zu rechtem Terrorismus ist fließend. In der folgenden unvollständigen Liste sind Anschläge aufgenommen, bei denen zufällig ausgewählte Menschen stellvertretend für die Gruppe, zu der die Attentäter sie zählen, angegriffen werden. Die Anschläge sind Botschaftstaten. Sie sollen bestimmte gesellschaftliche oder ethnische Gruppe in einen permanenten Angstzustand versetzen. Sie werden medial inszeniert und verbreitet, um Nachahmungstäter zu weiteren Anschlägen zu animieren. Zugleich sollen die Anschläge die Hilflosigkeit des demokratischen Staates demonstrieren und ihn der Lächerlichkeit preisgeben. (10)

Wir beschränken uns hier auf Anschläge, die in den letzten 10 Jahren erfolgten.

2011:

Oslo/Utoya: Der Rechtsterrorist Anders Breivik tötet in Oslo acht Menschen mit einer Autobombe und ermordet anschließend auf der Insel Utoya 69 Teilnehmer*innen eines sozialdemokratischen Ferienlagers. Insgesamt werden 319 Menschen teils schwer verletzt. Breivik gilt unter rechten Extremist*innen und Terrorist*innen als Held. Seine Taten und deren Begründung, die er im Prozess wiederholen konnte, dienen vielfach als Vorbild für weitere Gewalttaten.

2014:

Isla Vista: in der texanischen Stadt tötet der Incel-Terrorist (11) Elliot Rodgers 6 Menschen und verletzt 14 weitere. Er versucht dabei, möglichst viele Frauen umzubringen. Rodgers wird zum Vorbild und Helden rechter „Incels“, die ihren Frauenhass mit rassistischen und antisemitischen Feindbildern verbinden und zu Attacken auf Frauen aufrufen.

2015:

Trollhättan (Schweden): ein Rechtsterrorist tötet in einer Koranschule zwei Menschen und verletzt fünf weitere. Als Grund für seine Tat nennt er die Zuwanderung. Er verbreitet im Netz rassistische und faschistische Ansichten.

2016:

München: ein 18-jähriger Rechtsterrorist tötet im Olympiazentrum gezielt Jugendliche mit Migrationshintergrund. Er erschießt neun Menschen und verletzt fünf weitere. Obwohl der Attentäter den norwegischen Massenmörder Anders Breivik glühend verehrt, wird von den Behörden ein politisches Motiv zunächst verneint.

2017:

Charlottesville: ein 20-jähriger Rassist steuert sein Auto bewusst in eine Gruppe von Demonstrant*innen, die gegen eine „White Supremacy“ Veranstaltung protestieren. Er tötet eine Frau und verletzt 19 Menschen schwer. Das Attentat wird für die militante US-Rechte zur symbolischen Heldentat. Es wird auch deshalb weltweit bekannt, weil der damalige Präsident Trump sich nicht davon distanzieren wollte.

Aztec (USA): ein 21-Jähriger erschießt in einer High-School zwei Mitschüler und tötet anschließend sich selbst. Er war vorher in rechtsterroristischen Chatgruppen unterwegs und tauschte sich unter anderem mit dem Attentäter von München aus.

2018:

Toronto: ein Incel-Terrorist versucht mit einem Lieferwagen, möglichst viele Passant*innen zu töten. Er konzentriert sich dabei auf Frauen. Er tötet 16 Menschen und verletzt 10 weitere schwer.

Pittsburgh: ein Rechtsterrorist tötet bei einem Angriff auf eine Synagoge elf Menschen und verletzt sechs. Seine Motive sind Judenhass und die Theorie vom Großen Austausch.

2019:

In Christchurch (Neuseeland) tötet ein Rechtsterrorist bei einem Angriff auf zwei Moscheen 51 Menschen und verletzt weitere 40 Menschen teilweise schwer. Er nimmt den Angriff mit einer Helmkamera auf und verbreitet die Live-Bilder des Attentats weltweit.

Poway: ein 19-jähriger Rechtsterrorist verübt einen Anschlag auf die Synagoge, tötet eine Frau und verletzt weitere Menschen schwer. Er begründet den Anschlag mit antisemitischen Parolen und der Verschwörungslüge vom „Großen Austausch“. Dabei beruft er sich auf den Attentäter von Christchurch.

El Paso/Texas: ein Rechtsterrorist tötet in einem Einkaufszentrum 22 Menschen, die er für Mexikaner*innen hält, und verletzt 23 weitere Menschen. Auch er beruft sich auf den Attentäter von Christchurch.

In Halle versucht ein Rechtsterrorist, in die Synagoge einzudringen und möglichst viele Menschen zu ermorden. Als der Anschlag misslingt, erschießt er zwei unbeteiligte Menschen.

2020:

In Hanau erschießt ein Rechtsterrorist bei einem rassistisch motivierten Anschlag neun Menschen. Danach tötet er seine Mutter und sich selbst.

In Toronto ermordet ein Incel-Terrorist eine Frau und verletzt weitere Menschen schwer.

2022:

In Colorado Springs dringt in der Nacht zum 20. November 2022 ein bewaffneter junger Mann in den queeren „Club Q“ in Colorado Springs ein. Er ermordet dort fünf Menschen und verletzt 25 weitere Menschen, bevor er durch Besucher*innen des Clubs überwältigt werden kann.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) siehe dazu das Kapitel Weimarer Republik, insbesondere die Themen 2.1 bis 2.4. Eine besondere Rolle spielte dabei die Dolchstoßlegende. Der Schuldzuweisung an die kriegsmüde und erschöpfte Bevölkerung, sie sei nicht patriotisch genug gewesen und hätte nicht genügend Opfer gebracht, liegt ein totalitäres Menschen- und Gesellschaftsbild zugrunde. Nach diesem haben Menschen keinen freien Willen und kein Recht auf Leben, sondern sind als Angehörige einer Nation verpflichtet, klaglos Leben und Gesundheit für das „Vaterland“ zu opfern – wobei die Interessen und die Politik des Vaterlandes nicht von der zu Opfern und Verzicht aufgerufenen Bevölkerung, sondern von Kaiser und Generälen bestimmt werden. Wer sich der geforderten Unterordnung entzieht und widerspricht, wird zum „Verräter“ erklärt, der ermordet werden darf.

(2) dazu ausführlich: Emil Julius Gumbel, vier Jahre politischer Mord

(3) dazu ausführlich: Martin Sabrow, Deutsche Staatsverbrechen – die verdrängte Verschwörung

(4) Der Münchner Oktoberfest-Attentäter Gundolf Köhler ging nach eigenem Bekunden davon aus, dass von Politik und Öffentlichkeit linke Terroristen für den Anschlag verantwortlich gemacht würden; er erhoffte sich davon eine Gegenreaktion und einen Wahlsieg von Franz Josef Strauß bei der anstehenden Bundestagswahl; mit demselben Kalkül begingen italienische Faschisten den Bombenanschlag von Bologna. Der ehemalige Bundeswehroffizier Franco A. ließ sich als syrischer Geflüchteter registrieren, um mit dessen Identität Anschläge zu begehen und die Wut darüber auf Geflüchtete zu lenken.

(5) siehe dazu Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten, Kap.2

(6) Martin Steinhagen, Rechter Terror, Rowohlt 2021, S. 67ff

(7) Ehrhardt und Naumann zit. nach: Martin Steinhagen, Rechter Terror, S. 79

(8) vgl. dazu Steinhagen s.125 f

(9) Steinhagen S.123

(10) Eine ausführlichere Chronik zu rechtsterroristischen Anschlägen, die wir hier zusammengefasst wiedergeben, findet sich bei: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/02/Broschu%CC%88re-Rechtsterroristische-Online-Subkulturen_pdf.pdf

(11) Der Begriff „Incel“ bezeichnet „unfreiwillig zölibatär lebende Männer“, die häufig auf ihre Situation mit Hass auf Frauen reagieren. Mehr dazu unter: 5.9 Antifeminismus

(12) mehr dazu unter: https://www.belltower.news/colorado-springs-fuenf-tote-nach-queerfeindlichem-anschlag-143195/

 

Fotonachweise:

Angehörige der Brigade Ehrhardt beim Kapp-Lüttwitz-Putsch: Bundesarchiv, Bild 146-1971-091-20 / CC-BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5418906

Neonazi-Aufmarsch in München am 2. April 2005: Rufus46, Neonazi 2.4.2005 München, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=829398