Todesopfer rechter Gewalt nach 1990
Seit der deutschen Wiedervereinigung gab es mehr als 200 Todesopfer rechter Gewalt. Stellvertretend für diese Opfer zeichnen wir hier 16 tödliche Gewalttaten nach. Die Opfer sind Menschen, deren Tod nicht zu großen Schlagzeilen oder Staatsakten geführt hat und deren Schicksal ohne die Erinnerungsarbeit engagierter Bürger*innen und Initiativen längst vergessen wäre. (1)
Rassistische Morde
Unter den Motiven rechten Terrors steht Rassismus an erster Stelle. Die Gewalttaten betreffen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihres Status als Geflüchtete, Asylbewerber*innen oder Arbeitsmigrant*innen. Ziel des rechten Terrors ist, nach dem Motto „Deutschland den Deutschen“ Migrant*innen und Geflüchtete einer ständigen Bedrohung auszusetzen und sie so zu zwingen, Deutschland zu verlassen oder dort als Menschen zweiter Klasse zu leben.
Charles Werabe
Charles Werabe wird in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 2014 in der städtischen Notunterkunft in Limburg (Hessen) von drei Männern ermordet. Durch seine Hautfarbe und die Wohnungslosigkeit ist Charles Werabe doppelt gefährdet. Im Oktober 2009 wurde bereits ein Obdachloser in Limburg brutal ermordet.
Charles Werabe wird am 01.01.1959 in Ruanda geboren. Das Bürgerkriegsland Ruanda verlässt er 1972 und kommt im Alter von 13 Jahren als Geflüchteter nach Deutschland. Er absolviert eine Elektrikerlehre.
Im Oktober 2014 ist er wohnungslos und sucht daher die kommunale Notunterkunft in Limburg auf. Hier trifft er am Abend des 22. Oktober auf seine Mörder. Zwei der drei Täter sind selbst obdachlos. Die Männer beleidigen ihn zunächst rassistisch. Dann misshandeln sie ihn, begleitet von rechten Parolen. Sie schlagen und treten so massiv auf ihn ein, dass Charles Werabe noch in der Nacht an den schweren inneren Verletzungen verstirbt.
Zwei der Täter werden vom Landgericht Limburg wegen Mordes zu Haftstrafen von zwölf und zehn Jahren verurteilt. Gericht und Staatsanwaltschaft gehen von ‘Fremdenfeindlichkeit’ als Motiv aus. Der dritte Täter begeht in Untersuchungshaft Selbstmord.
Charles Werabe wird anonym beerdigt. Am Tatort in Limburg erinnert seit 2018 eine Gedenktafel an ihn. Für die Errichtung der Gedenktafel hat sich das zivilgesellschaftliche Bündnis „Courage gegen rechts“ eingesetzt. Zudem veranstaltet das Bündnis jährlich kleine Gedenkveranstaltungen. Bei der Gedenkfeier und Einweihung des Gedenkorts erwähnt Bürgermeister Dr. Marius Hahn auch, dass nicht alle Limburger*innen die Errichtung der Gedenktafel für den Getöteten gerne gesehen hätten.
Gedenktafel zur Erinnerung an Charles Werabe
Ali Bayram
Am Abend des 18. Februar 1994 klingelt es an der Tür der Familie Bayram in Darmstadt (Hessen). Die Tochter Asli Bayram öffnet die Tür. Vor ihr steht der Nachbar, der sich über die Musik beschwert, die angeblich zu laut ist. Als die Tochter ihren Vater an die Wohnungstür bittet, holt der Nachbar eine Pistole heraus und schießt mehrfach auf Ali Bayram. Er ist sofort tot; seine Tochter wird von einer Kugel am Arm getroffen. Der Nachbar war der Familie, die er als „Türkenpack“ beschimpfte, schon längere Zeit als Neonazi bekannt.
Der Täter wird zu neun Jahren wegen Todschlages verurteilt. Eine rechtsextreme Motivation wird nicht anerkannt.
Sadri Berisha
Als am 8. Juli 1992 sieben Neonazis eine Unterkunft in Ostfildern-Kemnat bei Stuttgart stürmen, wird der 56-jährige Kosovo-Albaner Sadri Berisha mit einem Baseballschläger erschlagen. Vor der tödlichen Attacke hörten sich die Täter Hitler-Reden vom Band an. Als Motiv nennen sie „Polacken klatschen“. Einer der Täter, der 25-jährige Thomas W., der den tödlichen Schlag ausgeführt hat, wird zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Die sechs anderen Mittäter werden zu Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten auf Bewährung und neun Jahren verurteilt.
Seit 1990 sind rund ein Dutzend tödliche Attacken von Rechtsextremist*innen auf Arbeitsmigrant*innen aus Ost- und Südosteuropa sowie auf Spätaussiedler*innen belegbar. Diese aus Fremdenhass begangenen Gewalttaten haben wenig öffentliche Aufmerksamkeit gefunden. Ein rassistisches Motiv wird häufig abgestritten, obwohl in der Abwertung von Menschen aus Ost- und Südosteuropa immer noch die nationalsozialistische Propaganda vom „arischen Herrenmenschen“ und den „slawischen Untermenschen“ nachwirkt.
Das Köfte-Kosher-Gedenkpavillon erinnert an die Opfer rechter Gewalt in Deutschland
Hass auf obdachlose, kranke und behinderte Menschen
Vergleichbar zahlreich sind Gewalttaten, deren Motiv sich als Sozialdarwinismus zusammenfassen lässt. Besonders betroffen sind davon obdachlose, kranke, schwache und behinderte Menschen, die in der rechtsextremen Szene als „asozial“ und „minderwertig“ gelten, weil sie als „Ballastexistenzen“ der „Volksgemeinschaft“ im „Kampf ums Dasein“ zur Last fallen.
Dieter-Klaus Klein
Der 49-jährige Obdachlose Dieter Klaus Klein wird in der Nacht zum 1. August 1992 im Park von Bad Breisig (Rheinland-Pfalz) von zwei rechten Skinheads zusammengetreten und danach mit einem Kampfmesser niedergestochen. Der Obdachlose war vom Lärm der Skinheads, die „Sieg Heil“ grölten, aufgewacht und hatte sich den Krach verbeten.
Für die beiden Skinheads stellt es eine besondere Provokation dar, ausgerechnet von einem „Penner“, der in ihrer Weltanschauung ganz unten steht und als menschlicher „Abschaum“ ohnehin kein Lebensrecht hat, zurechtgewiesen zu werden. Dennoch verneint das Gericht eine rechtsextremistische Motivation. Die beiden Täter werden nach dem Jugendstrafrecht verurteilt und nach kurzer Haft wegen „guter Führung“ entlassen.
Wolfgang Auch
Auf einem Spielplatz in Schwedt wird am 16. September 1991 der Arbeitslose Wolfgang Auch von acht Tätern über Stunden gefoltert. Dabei wird er einem „Verhör“ unterzogen und bei nicht genehmen Antworten geschlagen und getreten. Als besondere Demütigung urinieren die Täter auf den am Boden liegenden wehrlosen Mann. Wolfgang Auch stirbt am 22. September im Krankenhaus an den Folgen seiner Verletzungen. Er wird zum Opfer, weil er Alkoholiker, psychisch krank und leicht gehbehindert ist. Er gilt den Tätern als „Assi“ und „Volksschädling“, der kein Recht zum Leben hat. Es dauert mehr als 20 Jahre, bis Wolfgang Auch als Opfer rechter Gewalt staatlich anerkannt wird.
Alle acht Täter erhalten Bewährungsstrafen. Sie konnten einen Menschen demütigen, foltern und töten, ohne auch nur einen einzigen Tag im Gefängnis zu verbringen. Die unfassbare Milde gegenüber Nazis, die obdachlose, behinderte und kranke Menschen totschlagen, ertränken oder anzünden, nimmt zugleich einer besonders verletzlichen, wehrlosen und ausgegrenzten Gruppe jeglichen Schutz. Urteile dieser Art wiederholen sich in vielen Verfahren.
Antisemitisch motivierte Morde
Blanka Zmigrod – Mord an Holocaust-Überlebender
Am 23. Februar 1992 wird die 68-jährige Jüdin und Shoah-Überlebende Blanka Zmigrod von dem schwedischen Rechtsterroristen John Ausonius aus nächster Nähe erschossen. Einige Tage vor der Tat ist Ausonius zu Gast in einem Restaurant im Frankfurter Westend, in dem Zmigrod an der Garderobe arbeitet. Er beschuldigt das spätere Opfer, seinen Taschencomputer gestohlen zu haben, der Daten zu falschen Identitäten enthält.
Blanka Zmigrod lebte mit ihrer Familie bis zur Machtergreifung der Nazis in Oberschlesien. Als junges Mädchen hat sie mehrere Konzentrationslager der Nazis überlebt, nach Kriegsende wanderte sie nach Israel aus. 1960 kehrt Zmigrod nach Deutschland zurück, wo sie fortan in Frankfurt lebt.
Vor dem Mord in Frankfurt verübt der Täter John Ausonius eine rassistisch motivierte Anschlagsserie in Schweden: zwischen August 1991 und Januar 1992 schießt er auf insgesamt elf Migrant*innen und ermordet einen von ihnen. Der flüchtige und später gefasste Täter Ausonius wird in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt.
Ausonius wird 2016, nachdem er seine Haft in Schweden verbüßt hat, nach Deutschland ausgeliefert und 2018 erneut zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.
Ausonius wird zum Vorbild für die militante Neonaziszene. Der Rechtsterrorist Anders Breivik etwa nennt Ausonius vor Gericht als Vorbild. In einem „Field Manual“ des neonazistischen Netzwerks Blood and Honour werden seine Taten als Beispiel für den sogenannten Führerlosen Widerstand genannt. Darüber hinaus ähneln Ausonius Taten denen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), weshalb es möglich ist, dass sein Vorgehen als Vorlage für das deutsche Terrornetzwerk diente.
Karl-Hans Rohn – Als vermeintlicher Jude angezündet und verbrannt
Der 53 Jahre alte Metzger Karl-Hans Rohn wird am 13. November 1992 in einer Kneipe in Wuppertal (Nordrhein-Westfalen) von zwei Rechtsextremisten geschlagen, angezündet und erstickt. Vor der tödlichen Attacke wird der 53-Jährige vom Wirt sowie den zwei anwesenden rechtsextremen jungen Männern antisemitisch beschimpft, da sie annehmen, Karl-Hans Rohn sei Jude. Die beiden Männer prügeln daraufhin brutal auf Rohn ein, schütten unter Anfeuerung des Wirts („Juden müssen brennen“) schließlich hochprozentigen Schnaps über das Opfer und zünden ihn an. Als das Feuer eine zu große Rauchentwicklung verursacht, löschen die drei Männer den Brand am Körper des am Boden liegenden Opfers und beschließen, sich Karl-Hans Rohns in der Nähe der holländischen Grenze zu „entledigen“. An einer Autobahn werfen die drei Männer ihn aus dem Wagen. Ob Rohn zu diesem Zeitpunkt noch lebt, bleibt unklar. Die jungen Männer sind beide Mitglieder in der rechtsextremen Vereinigung der „Nationalistischen Front“ – einer Gruppierung, die kurz nach den rassistischen Brandanschlägen von Mölln verboten wurde.
Mord als Machtdemonstration gegen politische Gegner*innen
Immer wieder setzen Neonazis und rechte Skinheads Gewalt als Mittel ein, um die eigene Macht und Stärke zu demonstrieren und politische Gegner*innen und Andersdenke einzuschüchtern. Deshalb kommt es immer wieder zu Angriffen gegen politische Gegner*innen und Punks, die den Rechten als „Zecken“ gelten. Oft genügt bereits Kritik oder Widerspruch, um die Wut und Aggression von Neonazis auf sich zu ziehen.
Patricia Wright – „Linke haben kein Recht zu leben“
Patricia Wright gehört zu den Opfern, die von Neonazis als „Linke“ eingeordnet und wegen ihrer politischen Meinung getötet wurden. Der Tötung geht eine Vergewaltigung voraus.
Am 3. Februar 1996 wird Patricia Wright in Bergisch Gladbach (Nordrhein-Westfalen) von dem vorbestraften und per Haftbefehl gesuchten Neonazi Thomas Lemke vergewaltigt und anschließend ermordet. Thomas Lemke hatte sie bei einer früheren Begegnung aufgrund eines „Nazis raus“-Aufnähers auf ihrer Jacke als „Linke“ eingeordnet. Er fährt zu Patricia Wrights Wohnung, fesselt und vergewaltigt sie. Anschließend erdrosselt er sie mit einem Schnürsenkel, schlägt mit einer Gipsfigur auf ihren Kopf und sticht laut Obduktionsbericht 91-mal auf Patricia Wright ein. „Linke haben kein Recht zu leben“, mit diesen Worten begründet Lemke die Tat gegenüber einem anderen Neonazi. Im März 1997 verurteilt die Schwurgerichtskammer des Essener Landgerichts Lemke wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haft und anschließender Sicherheitsverwahrung. Außer Patricia Wright fielen ihm noch Dagmar Kohlmann am 16. Juli 1995 und Martin Kemming am 15. März 1996 zum Opfer.
Mike Zerna – „schlagt die Zecken tot“
Linke Jugendliche und Punker*innen werden von Neonazis und Skinheads immer wieder bedroht und angegriffen, weil sie andere politische und kulturelle Vorstellungen haben und sich dem Vorherrschaftsanspruch der Rechten nicht unterwerfen wollen.
Am 19. Februar 1993 wird der 22-jährige Mike Zerna bei einem Angriff von rechten Skinheads auf linke Jugendliche in Hoyerswerda (Sachsen) zusammengeschlagen. Unter den Angreifern befinden sich drei Jugendliche, die wegen fremdenfeindlicher Gewalttaten vorbestraft sind. Sie prügeln mit Rufen wie „schlagt die Zecken tot“ auf Konzertbesucher*innen und den Fahrer der Band ein. Als Mike Zerna bereits reglos am Boden liegt, kippen sie zusätzlich ein Auto auf ihn. Der 22-Jährige stirbt sechs Tage später an seinen schweren Verletzungen. Weil Polizei und Sanitäter*innen erst eine Stunde nach dem Überfall am Tatort eintreffen, sind sie nach Auffassung des Landgerichts Bautzen mitverantwortlich für den Tod. Im Juli 1994 werden zwölf Tatbeteiligte im Alter von 19 bis 25 Jahren zu Bewährungs- und Haftstrafen von bis zu vier Jahren verurteilt.
Piotr Kania – tödliche Attacke nach Auseinandersetzung
Piotr Kania kritisiert einen Neonazi und will ihn zur Rede stellen. Das genügt, um eine tödliche Attacke auszulösen.
Piotr Kania, der zusammen mit seinen Eltern von Polen nach Deutschland migriert war, wird 1994 von einem rechtsextremen Bundeswehrrekruten mit einem Dolchstich ins Herz getötet. Er wird 18 Jahre alt.
Auf den Täter trifft Piotr Kania am 6. November 1994 am Bahnhof von Rotenburg (Fulda). Da der Mann durch sein Outfit als Neonazi erkennbar ist – er trägt Bomberjacke, Springerstiefel und ein Oberteil mit der Aufschrift „Hools Deutschland“ in altdeutscher Schrift – bezeichnet Piotr Kania ihn als „Nazischwein“ und verfolgt ihn bis zum Bahnhofsvorplatz. Dort dreht der Täter sich plötzlich um und zieht einen Dolch aus der Tasche. Er rammt diesen Piotr Kania direkt ins Herz. Ein Freund, der ihm zur Hilfe eilt, wird ebenfalls im Brustbereich verletzt. Der Täter flieht nach der Tat gemeinsam mit vier weiteren Soldaten in einem Taxi in die Kaserne.
Im Spind des 19-jährigen finden die Ermittler rechtsextremes Propagandamaterial. Wie sich später herausstellt, war er auch an den Ausschreitungen 1992 in Rostock-Lichtenhagen beteiligt. Polizei und Staatsanwaltschaft Kassel folgen seiner Aussage, dass es sich bei dem tödlichen Angriff um Notwehr gehandelt habe. Die Ermittlungen werden im Februar 1995 eingestellt.
Silvio Meier – „Jetzt haben wir es euch gezeigt, ihr linken Säue“
Silvio Meier
Am 21. November 1992 wird der 27-jährige Hausbesetzer Silvio Meier in Berlin von einer Gruppe Neonazis niedergestochen und verblutet. Auch zwei Freunde von ihm werden schwer verletzt. Der tödlichen Attacke ging eine verbale Auseinandersetzung mit Neonazis am U-Bahnhof Samariterstraße voraus. Die Neonazis lauern Silvio und seinen Freunden vor dem Bahnhof auf und stechen mit Messern auf sie ein. Silvio Meier ist sofort tot. Die Täter sind zufrieden: „Jetzt haben wir es euch gezeigt, ihr linken Säue“. Die Jugendstrafkammer des Kriminalgerichts Berlin-Moabit verurteilt den Haupttäter Sandro S. am 2. Oktober 1993 in einem Jugendstrafverfahren wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren. Die Mitangeklagten, der 18-jährige Sven M. und der 17-jährige Alexander B., kommen mit Bewährungsstrafen davon.
Doris Botts – Mord als Aufnahmeritual
Dorit Botts wird zufälliges Opfer eines Aufnahmerituals. Mit dem Mord soll der Täter seine Zuverlässigkeit unter Beweis stellen.
Am 17. August 2001 dringt der Täter in das Geschäft von Dorit Botts in Fulda ein, misshandelt sie brutal und ersticht sie. Doris Botts wird 54 Jahre alt.
Der 19-jährige Täter sticht mehrmals auf die Frau ein, bevor er ihr die Kehle durchschneidet. Während sie verblutet, raubt er die Tageseinnahmen und Kleidungsstücke aus ihrem Geschäft für Militär- und Bundeswehrbekleidung.
Zunächst geht die Polizei von einem Raubmord aus. Erst bei der juristischen Aufarbeitung des Falls kommt der rechtsextreme Tathintergrund ans Licht. Der Täter, der in einer rechtsextremen Metal-Band spielt, gibt an, dass er die Tat als Aufnahmeritual in die neonazistische Gruppe „Deutsche Heidnische Front“ durchführte. Er sei von einem Freund und Gesinnungsgenossen mit den Worten „Fahr nach Fulda und mach die Alte kalt“ zur Tat aufgefordert worden.
Vom Landgericht Erfurt wird er zu einer Haftstrafe von neun Jahren und zwei Monaten wegen Mordes in Tateinheit mit Raub mit Todesfolge verurteilt; der mutmaßliche Anstifter wird freigesprochen.
Dorit Botts wird bisher nicht in der offiziellen Statistik als Todesopfer rechter Gewalt verzeichnet, obwohl es vom Gericht als erwiesen angesehen wird, dass nicht der Raub, sondern die Tötung der Frau und damit das Aufnahmeritual tatbeherrschend war.
Einen offiziellen Erinnerungsort in Fulda gibt es nicht. Die Stadtverordnetenversammlung lehnte zuletzt im Januar 2021 einen Antrag auf Errichtung eines würdigen Gedenkortes ab.
Morde aufgrund der sexuellen Orientierung
Christopher W.
Immer wieder werden Menschen mit anderer sexueller Orientierung von Neonazis attackiert. Oft genügt bereits ein Verdacht, um Beleidigungen und Angriffe auszulösen.
Am 7. April 2018 wird der 27-jährige Christopher W. in Aue von drei polizeibekannten Neonazis in ein Abrissgebäude entführt und dort zu Tode gefoltert. Die Täter sind stolz darauf, es der „schwulen Sau“ gezeigt zu haben und stellen Fotos des zertrümmerten und völlig entstellten Körpers anschließend ins Netz. Aufgrund der sexuellen Orientierung des Opfers gehen der brutalen Tat schon Wochen zuvor körperliche Attacken und homophobe Beleidigungen durch die Täter voraus.
Beim Prozess am Landgericht Chemnitz spricht die Staatsanwaltschaft in der Anklage von Mord, die Polizei von vollendetem Totschlag. Die Täter werden zu Haftstrafen von 11 bis 14 Jahren verurteilt. Homosexuellenfeindlichkeit wird vom Gericht als Tatmotiv nicht berücksichtigt.
Die Tat wurde als rechtsextrem motiviert anerkannt. Den Behörden wird vorgeworfen, die politischen Hintergründe des Mordes zunächst verschwiegen und bagatellisiert zu haben.
Polizist*innenmorde
Gedenkstein für den ermordeten Polizisten Thomas Goretzky
Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper, Mathias von Woitowitz
Polizisten gelten Neonazis als Repräsentanten der verhassten Staatsmacht. Deshalb kommt es immer wieder zu Attacken gegen Polizisten, die in mehreren Fällen tödlich verlaufen.
Am 14. Juni 2000 erschießt der 31-jährige Rechtsextremist Michael Berger in Dortmund und Waltrop (Nordrhein-Westfalen) drei Polizisten und anschließend sich selbst. Bei einer polizeilichen Routinekontrolle wird Berger mit seinem Auto angehalten. Plötzlich eröffnet er das Feuer gegen die zwei Polizeibeamten. Der 35-jährige Polizeikommissar Thomas Goretzky stirbt sofort, seine Kollegin wird durch einen Schuss ins Bein verletzt.
Auf der Flucht erschießt Berger die 34-jährige Polizistin Yvonne Hachtkemper und den 35-jährigen Polizisten Mathias Larisch von Wojtowitz. Am Ende von Bergers Amokfahrt richtet er sich selbst. Trotz eines Waffenarsenals in Bergers Wohnung sehen Polizei und Innenminister keine Hinweise auf eine Verstrickung in rechtsextremistische Aktivitäten. Später tauchen in der Stadt Aufkleber der Nazi-Kameradschaft Dortmund auf: „Berger war ein Freund von uns. 3:1 für Deutschland.“
Trotz brutaler Attacke mit Todesfolge als V-Mann entlohnt
Mike Baginski und Rolf Baginski
Ein Bericht der Frankfurter Rundschau vom 14. Juni 2021 (2) wirft ein Schlaglicht auf Täter und Opfer:
Rolf Baginski und sein Sohn Mike wurden von Neonazis brutal zusammengeschlagen. Der Vater starb an den Spätfolgen des Überfalls. Mike ist seither schwerbehindert. Laut Gerichtsurteil hätten die Schläger Entschädigungen zahlen müssen, was sie jedoch nie taten. Dabei wurde einer von ihnen als V-Mann vom Verfassungsschutz entlohnt.
Der Überfall auf Mike Baginski durch drei Neonazis ereignet sich im November 1991. Der Haupttäter, der Thüringer Neonazi Michael See, tritt immer wieder auf Kopf und Gesicht des Opfers ein. Im Arztbericht des Krankenhauses heißt es dazu: „Die Konturen des Gesichts waren weitgehend aufgehoben.“ Aufgrund der Verletzungen besteht akute Erstickungsgefahr. Der in der Nähe befindliche Vater Rolf Baginski, der seinem Sohn zu Hilfe kommen will, wird von See zu Boden geworfen und mit dessen Stahlkappenstiefeln immer wieder ins Gesicht getreten. Rolf Baginski stirbt an den Spätfolgen der Verletzungen.
Das Gericht zeigt unfassbare Milde. See wird zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt, die er nur zum Teil absitzen muss. Weiterhin werden die Täter zu einer Entschädigungszahlung an die Opfer verurteilt.
Noch in der Haft lässt sich See vom Bundesamt für Verfassungsschutz anwerben. Sees Vergangenheit stellt offenbar kein Hindernis für eine solche Anwerbung dar. Unter dem Decknamen „Tarif“ soll er Informationen über die Thüringer Neonaziszene liefern. Dafür wird er bis zu seinem Ausstieg 2001 mit mindestens 60 000 DM entlohnt. Nach eigenen Aussagen hat See unter anderem Informationen über die NSU-Mörder geliefert, die nicht weiterverfolgt wurden. Der Verfassungsschutz bestreitet dies. Eine Nachprüfung ist nicht möglich, weil die Seitenzahlen in den „Tarif“- Akten fehlen und deshalb nicht festgestellt werden kann, ob die Akten vollständig sind.
Von den 60 000 DM, die als Lohn für Sees Tätigkeiten ausbezahlt wurden, ist kein Cent Entschädigung an die Opfer der Gewalttat bezahlt worden. See stellte sich als mittellos dar. Der Verfassungsschutz erklärte sich als nicht zuständig.
Rolf Baginski wurde 55 Jahre alt. Der heute 51- jährige Mike Baginski, dem in wenigen Minuten durch einen neonazistischen Gewaltakt die Chance auf ein normales Leben genommen wurde, lebt in einem Heim für Menschen mit Behinderung. Die Behinderung ist Folge der Gehirnschwellung, die die Tritte hervorgerufen haben. Baginski ist schwer traumatisiert und auf Hilfe angewiesen. Er hat den Überfall und den Tod des Vaters nie verarbeitet. See lebt dagegen heute mit der großzügigen Starthilfe des Bundesamts für Verfassungsschutz auf einem Gutshof in Schweden.
Verletzte, lebenslang geschädigte und traumatisierte Opfer
Zusätzlich zu den Todesopfern wurden tausende Menschen bei rechten Gewalttaten teils schwer verletzt, oft lebenslang geschädigt und traumatisiert. Einige Beispiele:
- Ein Nigerianer wurde am 9. Mai 1992 mit den rassistischen Rufen “Hängt das N****schwein” in Wendisch Rietz von Rechtsextremen zusammengeschlagen und in einen See geworfen. Das Opfer, damals 33 Jahre alt, überlebte nur knapp.
- Am 12. Mai 1994 hetzten Skinheads Asylbewerber durch die Innenstadt von Magdeburg.
- Am 30. September 1996 schlug ein Skinhead den Italiener Orazio Giamblanco im brandenburgischen Trebbin und verletzte ihn lebensgefährlich. Das Opfer trug dauerhaft schwere körperliche Beeinträchtigungen davon.
- In Mahlow (Brandenburg) warfen am 16. Juni 1996 junge Neonazis beim Überholen einen Stein in das Auto eines Briten mit dunkler Hautfarbe. Noel Martins Auto prallte gegen einen Baum. Er ist seitdem querschnittgelähmt.
- Am 6. August 1997 überfielen sieben Jugendliche in Frankfurt (Oder) den Geflüchteten Mohammad Mouzain. Er erlitt Blutergüsse und eine Platzwunde am Kopf.
- In Fahrland (Nähe Potsdam) schlugen am 5. Oktober 1997 Jugendliche auf einen ungarischen Arbeiter mit Baseballschlägern ein und verletzten diesen schwer. (3)
Laut der Statistik des Verfassungsschutzes gab es in den Jahren nach der Wiedervereinigung folgende Zahlen rechter Gewalttaten:
1991: 1492;
1992: 2639;
1993: 2232;
1994: 1481.
Die Zahlen sanken in den Folgejahren, blieben jedoch nie unter 600. In den Jahren 2010 bis 2021 bewegen sie sich um die 1000 pro Jahr. Dabei ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen, da längst nicht alle Gewalttaten zur Anzeige kommen oder als rechte Gewalttaten anerkannt und registriert werden. (4)
Vollständige Liste der bekannten Todesopfer rechter Gewalt:
Die Amadeu Antonio Stiftung geht mit Stand Oktober 2021 von mindestens 228 Todesopfern rechter Gewalt und 14 weiteren Verdachtsfällen aus.
Eine chronologisch angeordnete Auflistung der Todesopfer mit jeweiligen Angaben zu den Namen und dem Alter der bekannten Opfer, den Tatorten, einer Schilderung der Motive und des Tathergangs sowie der rechtlichen Aufarbeitung der Taten findet sich hier:
https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/
Quellen, Hinweise und weitere Informationen
(1) Grundlage der dargestellten Fälle sind Recherchen des Sterns, der Zeit, der Frankfurter Rundschau, des Tagesspiegels und weiterer Presseorgane. Die Ergebnisse dieser Recherchen sind in der Chronik der Amadeu Antonio Stiftung veröffentlicht und werden dort fortlaufend aktualisiert. Wir stützen uns im Folgenden auf diese Chronik, aus der wir 15 Fälle mit 17 Todesopfern ausgewählt und zusammenfassend dargestellt haben. Gesondert dargestellt sind die Todesopfer von Brandanschlägen (siehe Thema 4.7).
Die hier ausgewählten Todesopfer rechter Gewalt stehen exemplarisch für das gesamte Spektrum der Opfer und der Taten. Das beinhaltet auch: wir haben nicht etwa besonders widerwärtige und grausame Gewalttaten herausgegriffen. Die meisten der dargestellten Gewalttaten haben sich in vergleichbarer Weise auch bei anderen Opfern und an anderen Orten ereignet. Wer mehr dazu wissen möchte, sollte auf die Chronik der Amadeu Antonio Stiftung zurückgreifen, die auch eine zeitliche und regionale Zuordnung der Gewalttaten beinhaltet.
(3) Beispiele zit. nach: https://www.spiegel.de/politik/national-befreite-zonen-die-opfer-des-terrors-a-8b13a5a0-0002-0001-0000-000007851101
(4) Zahlen entnommen aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Rechte_Gewalt_in_Deutschland://de. Zu den Zahlen ab 2010 siehe: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/4032/umfrage/rechtsextremismus-und-fremdenfeindlichkeit-in-deutschland/
Fotonachweise:
Gedenktafel zur Erinnerung an Charles Werabe: Foto: Stadt Limburg/Johannes Laubach
Das Köfte-Kosher-Gedenkpavillon erinnert an die Opfer rechter Gewalt in Deutschland: IMAGO / Eckhard Stengel, https://www.imago-images.de/
Silvio Meier: Kat Friedrich / Umbruch Bildarchiv, Lausitzer Straße 10, 10999 Berlin, Silvio Meier, CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1192410&uselang=de
Gedenkstein für den ermordeten Polizisten Thomas Goretzky: Joehawkins, eigenes Werk, PolizistenmordUntererGraffweg-2, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=43117839