Der Aufstieg der NSDAP 1929–1933

Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 beginnt der rasante Aufstieg der NSDAP von einer Splitterpartei zur stärksten Partei im Reichstag. Durch die ebenso rasant wachsende SA werden Gewalttaten gegen politische Gegner und Gegnerinnen und jüdische Bürger und Bürgerinnen zum Alltag. Die NSDAP und die SA können sich dabei auf gewachsene Verbindungen und Strukturen stützen.

In den Jahren 1924 bis 1928 scheint sich die Weimarer Republik zu stabilisieren. Zwar hetzen Nationalisten und Monarchisten immer noch gegen die „Novemberverbrecher“ und die „Judenrepublik“ oder beschimpfen das Parlament als „Schwatzbude“, doch durch die Überwindung der Inflation und einen wirtschaftlichen Aufschwung tritt eine Beruhigung ein. Die Demokratie scheint eine Chance zu haben.

Schützende Hände über Hitler

Bis 1929 ist die NSDAP nur eine von vielen nationalistischen und völkischen Gruppierungen, die allerdings durch ihren radikalen Antisemitismus und die Gewaltbereitschaft aus der Rechten hervorsticht. Deshalb sind die NSDAP und die SA zeitweise verboten oder von Verboten bedroht. Die Hitlerpartei kann die Zeit bis 1929 nur durchstehen, weil immer wieder von sympathisierenden Kreisen aus Justiz, Polizei und Politik schützende Hände über sie gehalten werden. Dies zeigt sich besonders deutlich am Hitlerputsch 1923.

Der Hitler-Putsch und das Volksgericht München

Am 8. November 1923 putschen Hitler und seine NSDAP gegen die bayerische Regierung. Hitler wirft dem Generalstaatskommissar Gustav von Kahr „Verrat“ vor, weil dieser den vereinbarten „Marsch auf Berlin“, mit dem die Reichsregierung gestürzt werden soll, nicht mehr mitmachen will. Der dilettantisch durchgeführte Putsch scheitert innerhalb eines Tages und verursacht 14 Tote.
Ein halbes Jahr später werden Hitler und fünf weitere Putschisten vor dem Volksgericht München wegen Hochverrats angeklagt. Der Prozess wird für Hitler zum Triumph. Das Gericht zeigt offen seine Sympathien und bietet ihm eine Bühne, um ungehindert Judenhetze und nationalsozialistische Propaganda zu verbreiten. Das Urteil ist eine einzige Huldigung an Hitler. Das Gericht bestätigt allen Angeklagten, dass sie

bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet waren

und fährt fort:

Alle Angeklagten glaubten, nach bestem Wissen und Gewissen, dass sie zur Rettung des Vaterlandes handeln müßten… Seit Monaten, Jahren waren sie darauf eingestellt, dass der Hochverrat von 1918 durch eine befreiende Tat wieder wettgemacht werden müßte. (1)

Propagandaschrift Adolf Hitlers

Das Gericht, das also nicht in Hitlers Putsch, sondern in der Novemberrevolution und der Errichtung einer demokratischen Republik den eigentlichen Hochverrat sieht, verhängt die Mindeststrafe von 5 Jahren Festungshaft. Es belässt Hitler die bürgerlichen Ehrenrechte. Dadurch kann Hitler die Strafe in der privilegierten Form der Festungshaft verbringen, in der ihm ein Privatsekretär zur Verfügung steht, dem er das Pamphlet „Mein Kampf“ diktiert. Nach 9 Monaten wird Hitler entlassen.

Der österreichische Staatsbürger Hitler hätte daraufhin als straffällig gewordener Ausländer nach geltendem Recht zwingend ausgewiesen und abgeschoben werden müssen. Das Gericht untersagt dies mit der Begründung, dass auf einen Mann, der so deutsch denkt wie Hitler, die Vorschrift nicht angewendet werden kann. (2)

Bereits 1924 hätte also der Aufstieg Hitlers gestoppt werden können – wenn sich das Volksgericht München einfach nur an das geltende Recht gehalten hätte. Tatsächlich wird der Prozess zum Lehrbeispiel darüber, wie eine Demokratie durch staatliche Organe, die sie eigentlich schützen sollen, zerstört werden kann.

Soziale Demagogie in der Weltwirtschaftskrise

Die 1929 beginnende und bis weit in die 1930er-Jahre fortwirkende Weltwirtschaftskrise stürzt Millionen von Menschen in Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend. Hitler und die NSDAP machen in hemmungsloser Demagogie „die Juden“, die „Altparteien“ und die Demokratie, den Versailler Vertrag, die Kommunisten und eine „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ für das Elend der Bevölkerung verantwortlich. Je länger die Krise dauert und je aussichtsloser die Lage für viele Deutsche wird, umso mehr Menschen beginnen, den Hetzern zu glauben. Es gelingt Hitler, sich die Sehnsucht vieler Deutscher nach einem starken Mann zunutze zu machen. Er stellt sich als der charismatische Führer dar, der sich dem „Diktat der Siegermächte“ widersetzt, das Unrecht des Versailler Vertrags tilgt und Deutschland wieder Respekt und die alte Größe verschafft.
Vor allem aber verbindet Hitler – anders als die anderen nach wie vor im elitären Dünkel befangenen nationalistischen und bürgerlichen Parteien – die nationale mit der sozialen Demagogie. Er verspricht, durch die Vertreibung des „raffenden jüdischen Kapitals“ und die Beseitigung der „Zinsknechtschaft“ Deutschland aus der Krise zu führen, die Arbeitslosen wieder in Lohn und Brot zu bringen und durch eine „Volksgemeinschaft“ den „Klassenkampf“ zu beenden.

Hitlers soziale Demagogie ist auch deshalb erfolgreich, weil die traditionellen deutschen Eliten aus Adel, Militär und Großbürgertum, die ab 1930 immer mehr die Politik bestimmen, kein sonderliches Interesse an der Linderung der Not zeigen, in die große Teile der Bevölkerung durch die Weltwirtschaftskrise geraten. Im Gegenteil wird diese Not noch verschärft, indem die sozialen Leistungen des Staates in Zeiten der Krise drastisch gekürzt werden.

Eines der wichtigsten Instrumente beim Aufstieg der NSDAP ist die SA. Die Sturmabteilung (SA) entsteht als paramilitärische Kampforganisation der NSDAP. Ihre Ursprünge liegen in den Freikorps. Die SA fungiert zunächst als Ordnertruppe, die Versammlungen der NSDAP mit Gewalt abschirmt. Die „Braunhemden“, wie die SA-Trupps aufgrund ihrer Uniformen genannt werden, suchen dann mehr und mehr die gewaltsame Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Wegen der Brutalität ihres Vorgehens wird die SA zwischenzeitlich mehrmals verboten. Die SA profitiert im hohen Maße von der Weltwirtschaftskrise und ihrer pseudosozialistischen Agitation, mit der sie sich als Anwalt der Arbeiter und der „kleinen Leute“ darstellt. Hat sie im April 1930 80 000 Mitglieder, sind es Ende 1932 bereits 700 000. Im Vorfeld der Machtergreifung 1933 verschärft die SA den Straßenkampf und dabei besonders die Übergriffe auf Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen, Kommunisten und Kommunistinnen und Juden und Jüdinnen.

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Aufmarsch der SA 1931

Die Aufmärsche waren zugleich eine Machtdemonstration

Hitlers Weg zur Macht

Die SA vermeidet in dieser Phase gewaltsame Konflikte mit der Staatsmacht. Hitlers Strategie ist stattdessen, möglichst viele Anhänger und Einfluss in den Staatsorganen zu gewinnen und damit schrittweise den Staatsapparat zu übernehmen. Zudem braucht er Verbündete, um auf legale Weise zur Macht zu kommen, die er dann zur Errichtung einer Diktatur nutzen will.

Der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Hindenburg im Januar 1933 geht eine folgenschwere Fehleinschätzung voraus. Die deutschnationalen Kräfte um General von Schleicher wollen Hitler und die SA dafür benutzen, mit den Kommunisten und Sozialdemokraten aufzuräumen. Nach getaner Arbeit soll dann Hindenburg Hitler wieder entlassen und den Weg für eine autoritäre Präsidialherrschaft freimachen.

Dies ist auch das Ziel des Medienmoguls Alfred Hugenberg, der als einer der wichtigsten Steigbügelhalter Hitlers gilt. Noch im Kaiserreich hat Hugenberg sich ein Medienimperium zusammengekauft, das seinen Kern in zahlreichen Verlagen, Nachrichtenagenturen und der Filmgesellschaft UFA hat und ihm die Kontrolle weiter Teile der deutschen Presse ermöglicht. Hugenberg nutzt sein Imperium, um die Weimarer Demokratie zu bekämpfen, den Parlamentarismus verächtlich zu machen („Schwatzbude“) und einen autoritären Staat zu fordern. Damit trägt er auch zur wachsenden Popularität Adolf Hitlers bei, in dessen erstem Kabinett er Minister für Wirtschaft, Landwirtschaft und Ernährung wird. Auch Hugenberg glaubt, Hitler für seine Zwecke nutzen zu können.

Allerdings hat Hitler nicht vor, sich benutzen zu lassen und danach die eben errungene Macht wieder abzugeben. Er kann sich dabei auf einflussreiche Großindustrielle und Bankiers stützen. Die Reichswehrführung hat er mit den Versprechen auf seine Seite gezogen, massiv aufzurüsten und die Autonomie der Reichwehr nicht anzutasten. Mit der SA steht ihm ein kampfbereiter paramilitärischer Verband mit bald einer Million Mitgliedern zur Verfügung. Der Einsatz von etwa 50 000 SA-, SS- und Stahlhelm-Mitgliedern als Hilfspolizei eröffnet 1933 weitere Möglichkeiten, Gegner und Gegnerinnen mit der Autorität der Staatsmacht und zugleich ohne rechtliche Beschränkungen zu bekämpfen. Die Hilfspolizei ist zudem der regulären Polizei zahlenmäßig weit überlegen. So stehen in Hessen Anfang 1933 4.594 SA- und SS-Hilfspolizisten 2.158 regulären Polizeibeamten gegenüber. Und auch viele von diesen Polizisten sind inzwischen in das Lager der NSDAP geschwenkt. (3)

Hitler und die Weimarer Rechte

Die Rechte in der Weimarer Republik ist bunt zusammengewürfelt. Zu ihr gehören Monarchisten, die zurück ins Kaiserreich möchten, Aristokraten, die auf die Demokratie und „die Massen“ herabschauen, Deutschnationale und Konservative, die den Vertrag von Versailles überwinden und Deutschland wieder zu alter Größe führen wollen, Militärs, die Revanche für den verlorenen Krieg nehmen wollen, Freikorps-Angehörige, die nichts außer Krieg gelernt haben und voller Hass auf die „Novemberverbrecher“ sind, nationalistische Intellektuelle, die völkische Ideen verbreiten und den „dekadenten Liberalismus und Materialismus“ des Westens ablehnen, Antisemiten, Rassehygieniker und auch Industrielle, die Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen und Kommunisten und Kommunistinnen loswerden wollen.

Hitlers NSDAP spielt zunächst eine untergeordnete Rolle. Er gilt in elitären Kreisen als Emporkömmling. Argwohn erregt, dass die NSDAP sich als Bewegung der von den Eliten verachteten Massen darstellt und diese zu organisieren versucht. Auch der proletarische und antikapitalistische Anstrich, den sich die NSDAP mit der Übernahme des Begriffs Sozialismus und dem Auftreten der SA gibt, macht sie eigentlich für elitär denkende Konservative und Nationalisten inakzeptabel.

Die Vorbehalte werden umso kleiner, je größer Hitlers Erfolge werden. Tatsächlich gibt es abseits allen Standesdünkels und taktischer Differenzen eine breite Übereinstimmung in allen grundlegenden Zielen: 

  • Zerstörung der Demokratie und Beseitigung der republikanischen Staatsordnung

  • Aufbau einer autoritären Regierung ohne Bindung an Grund- und Menschenrechte

  • Zerschlagung der Arbeiterbewegung

  • massive Aufrüstung und Revanche für die Niederlage im ersten Weltkrieg

  • „Rassenhygiene“ durch die Aussonderung von kranken und behinderten Menschen

  • Entrechtung und Vertreibung des jüdischen Bevölkerungsteils

Die Bedenken schwinden, und letztlich überwiegen die Verlockungen: Was alles wird möglich sein, wenn Hitler und seine SA-Truppen erst einmal die störenden Widersacher aus dem Weg geräumt und den Rechtsstaat beseitigt haben?

Der Unterbau des Terrors entsteht

Auch im Volksstaat Hessen beginnt der Aufstieg der NSDAP und der SA mit der Weltwirtschaftskrise. Die SA kann dabei aus dem Potenzial der zahlreichen Einwohnerwehren, „vaterländischen Verbände“ und Wehrbünde schöpfen, die während der Weimarer Republik unter den unterschiedlichsten Namen bestehen und einige Millionen Mitglieder haben. Zwischen diesen Verbänden und der Reichswehr haben sich enge Verknüpfungen gebildet. Um die militärischen Beschränkungen des Versailler Vertrags zu unterlaufen, kooperiert die Reichswehr heimlich mit diesen Verbänden. Es werden überall Wehrübungen abgehalten und versteckte Waffenlager angelegt.

Die Organisatoren dieser verdeckten Landesverteidigung in Nord- und Mittelhessen sitzen im Stab der dritten Kavalleriedivision im thüringischen Weimar. Im Marburger Land wiederum sind Heinrich Bossenberger und Josef Gensthaler die führenden Personen. Der Speckswinkler Mühlenbesitzer Bossenberger hat in dem 400-Seelen Dorf eine Feldjägertruppe aufgebaut, die heimlich Sabotageakte übt, um im Kriegsfall der Reichswehr beistehen zu können. Ausgebildet werden die Speckswinkler Feldjäger, die später das Rückgrat der örtlichen NSDAP und SA bilden und dort politische Gegner und Gegnerinnen tyrannisieren, von dem ehemaligen Offizier Richard Koch.

Gensthaler hat von der Reichswehr den Auftrag, im Marburger Land Feldjägertruppen aufzubauen. Er nutzt dabei Kontakte mit örtlichen Honoratioren wie dem Rosenthaler Arzt Dr. Heinrich Braun und dem Oberförster Walter Henckel. Die weiteren Kontakte laufen zum Offizierskasino und zum Landratsamt in Marburg, zur Frankenberger Offizierskameradschaft und zu preußischen Regierungsbeamten wie dem Kirchhainer Landrat Adolf von und zu Gilsa. So entsteht ein über die Jahre wachsendes Netzwerk, das zunächst deutschnational orientiert ist, aber mit wachsendem Erfolg der NSDAP (diese erreicht in Kirchhain bereits 1930 28 Prozent der Stimmen) in deren Lager wechselt. Gestützt auf gewachsene Strukturen und Netzwerke, vor allem in den ländlichen Gebieten Hessens, gelingt es der NSDAP, rasch an Einfluss zu gewinnen und im November 1931 auch bei den Wahlen zum Hessischen Volksstaat 37 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen. (4) Der Volksstaat Hessen wird damit zu einem Vorreiter in der Erfolgsserie der NSDAP.

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Hitler-Tag in Alsfeld 1932

NSDAP und SA breiten sich in Dörfern und Kleistädten immer mehr aus. Sie können sich dabei auf gewachsene rechtsradikale Strukturen stützen.

Die SA nutzt ihre wachsende Stärke zunehmend zu Gewaltakten gegen ihre politischen Gegner und Gegnerinnen. Der erste provokative Aufmarsch findet am 21. Oktober 1928 in Limburg statt. Überfälle und gewaltsame Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern und Gegnerinnen gibt es in Offenbach (1930), Kassel (1930), Harleshausen bei Kassel (1930), Frankenberg (1930), Darmstadt (1931), Grebenstein (1931) und Marburg (1931). In der Nacht nach der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 werden im Kreis Limburg der Landwirt Arnold Jäger und sein Lehrling Ewald Koch von einem SA-Trupp überfallen und schwer verletzt. Die SA rechtfertigt diese Aktion damit, sie habe irrtümlich geglaubt, die Überfallenen seien Kommunisten. Zwei Tage nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetztes stürmt die SA das Kasseler Gewerkschaftshaus und zerstört die Einrichtung. Ihr Anführer ist der Anwalt und NSDAP Stadtverordnete Roland Freisler, der später als Präsident des Volksgerichtshofs Hitlers oberster Blutrichter wird. (5)

Gewalttätigkeiten gegen jüdische Deutsche häufen sich

Die Anfeindungen und Gewalttätigkeiten gegenüber jüdischen Deutschen nehmen weiter zu. Die Vorlage hatten die Nazis in Berlin geliefert. Am Nachmittag des 12. September 1931, dem Tag des jüdischen Neujahrsfestes, attackieren unter der Regie des Nazi-Propagandisten und Berliner Gauleiters Joseph Goebbels rund tausend SA-Männer die Gläubigen, die aus den Synagogen kommen. Sie werden angepöbelt, geschlagen und teilweise schwer verletzt. Da die Polizei – anders als bei Demonstrationen der Kommunisten und Kommunistinnen – nur spärlich Präsenz zeigt und kaum eingreift, setzen sich die Ausschreitungen bei den „Kurfürstendamm-Krawallen“ bis in den Abend fort.

Wenige Wochen vorher kommt es in Nordhessen zu einem Überfall auf den jung-jüdischen (zionistischen) Wanderbund Brith Haolim. Die aus ganz Deutschland gekommenen und in Wendershausen (heute ein Ortsteil von Witzenhausen) eingetroffenen Jugendbewegten halten nahe der Burg Ludwigstein ihr Jahrestreffen ab. Von Beginn an kommt es zu Anfeindungen. Die Straße ist mit Hakenkreuzen beschmiert. Die Jugendlichen werden mit „Juda verrecke“ und „Deutschland erwache“-Rufen bedroht. Nach einer Versammlung der örtlichen SA, die überwiegend aus Schülern der Witzenhäuser Kolonialschule und Mitgliedern des örtlichen Stahlhelms besteht, kommt es zum nächtlichen Überfall auf Teilnehmende, die sich nach einer gemeinsamen Feier zum Schlafen in eine Scheune zurückgezogen haben. Die Jugendlichen werden mitten in der Nacht mit Steinen beworfen und mit Knüppeln angegriffen, mehrere werden verletzt, davon zwei schwer. Durch die rasche Reaktion der Angegriffenen können die Eindringlinge vertrieben, einige von ihnen gestellt und einem in das Geschehen eingreifenden Polizeitrupp aus Kassel übergeben werden.
Die meisten der Angreifer besuchen die Deutsche Kolonialschule in Witzenhausen. Sie war 1898 im Kaiserreich in privater Initiative entstanden, um junge Männer in „Kolonialberufen“ auszubilden. Die oft schon erwachsenen Schüler dieser elitären Einrichtung kommen zumeist aus den Familien von Offizieren und reichen Kaufleuten, die vom kolonialen Handel profitieren wollen und deshalb darauf drängen, sich die im Krieg verlorenen Kolonien wieder anzueignen. Einige der beteiligten angehenden Kolonialpioniere werden zunächst wegen Landfriedensbruch verurteilt. In der letzten Instanz werden die Urteile wieder aufgehoben. Einer der Verteidiger ist Roland Freisler. Freisler kann vor Gericht ohne Rüge erklären, die jüdischen Wanderer seien die eigentlichen Schuldigen, da es eine ungeheure Provokation sei, wenn „ausgerechnet Juden“ sich „in einer der schönsten Landschaften Deutschlands breit machen“. Die angeklagten Kolonialschüler dürfen sich auch der Rückendeckung seitens ihrer Mitschüler sicher sein, die sie vor den Gerichtsverhandlungen mit „Juda verrecke“ und „Sieg Heil“-Rufen verabschieden, ohne dass die Anstaltsleitung eingreift. Eine Reihe von Kolonialschülern, die an dem Überfall beteiligt sind, gehören 1933 zum breiten Unterbau, der die nationalsozialistische Machtergreifung unterstützt und den beginnenden Terror auch in die kleinsten Orte trägt.
Noch 1932 muss ein Kolonialschüler, der die Ehefrau des Lehrers der Witzenhäuser israelitischen Schule öffentlich anpöbelt, von der Anstalt verwiesen werden. Bereits einige Monate später, im April 1933, veranstalten die Schüler eine Bücherverbrennung. Mitschüler, in denen man „Halbjuden“ vermutet, werden so lange gemobbt, bis sie die Schule verlassen. Mit dem Tropenarzt Otto Buchinger, dessen Frau „Halbjüdin“ ist, unterliegt von 1933 an auch einer der Dozenten der Ausgrenzung. (6)

Noch kommen bei den Anschlägen auf Jüdinnen und Juden keine Menschen ums Leben. Doch die sich ständig steigernde Menschenverachtung, Enthemmung und Gewaltbereitschaft kündigt bereits die Verbrechen an, die bald folgen.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) zitiert nach Ingo Müller, Furchtbare Juristen – die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, S. 25

(2) Der § 9 des Republikschutzgesetzes lautete: „Gegen Ausländer ist auf Ausweisung aus dem Reichsgebiet zu erkennen. Zuwiderhandlungen gegen diese Anordnung werden mit Gefängnis bestraft“. Das Gericht sah von der zwingend vorgeschriebenen Ausweisung ab. Es begründete die Rechtsbeugung damit, dass „auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler, die Vorschrift … ihrem Sinn und ihrer Zweckbestimmung nach keine Anwendung finden“ kann. Das Gericht sprach auch den Mitangeklagten General Ludendorff frei. Es hielt die Aussage „seiner Exzellenz“ – wie der des Hochverrats Angeklagte stets unterwürfig vom Richter angesprochen wurde – für glaubwürdig, er habe sich wie schon vorher beim Kapp-Lüttwitz-Putsch rein zufällig in voller Uniform am Ort des Geschehens befunden. (Müller, a.a.O.)

(3) Die Entwicklung der SA in Hessen beschreibt das Landesgeschichtliche Informationssystem LAGIS: https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/drec/sn/edb/mode/catchwords/lemma/SA/current/0

(4) Zur zivil-militärischen Zusammenarbeit in der Weimarer Republik allgemein und speziell in der Region siehe: Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und „Wehrhaftmachung“ in Deutschland 1918–1933

(5) Einzelheiten finden sich unter den Datensätzen 1-50 des LAGIS, a.a.O.

(6) siehe dazu: Werner Troßbach, Der Überfall auf den Brith Ha’olim / Jungjüdischer Wanderbund in Wendershausen am 4./5. August 1931, in: Ludwigstein. Annäherungen an die Geschichte der Burg, Hg. Eckart Conze / Susanne Rappe-Weber, Göttingen: V&R Unipress 2015, S. 227-251.

 

Fotonachweise:

Propagandaschrift Adolf Hitlers: Ralf Roletschek, 12-10-13-dokument-kongreszhalle-nuernberg-by-RalfR-101, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22161739

Aufmarsch der SA 1931. Die Aufmärsche waren zugleich eine Machtdemonstration: Bundesarchiv, Bild 102-02187 / Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5479513

Hitler-Tag in Alsfeld 1932: Quelle: Philipp Pfaff, Oberhessen marschiert. Ein Bildbericht über den Stand der nat.-soz. Bewegung Oberhessens, o.J. [1932], S. 29.