Die geheime Aufrüstung und der Fememord an Maria Sandmayer

Um die geheime Aufrüstung zu decken, begehen die Freikorps eine Reihe politisch motivierter Morde an angeblichen „Verrätern“. Einer dieser Fememorde ist der Mord an Maria Sandmayer. Die Täter bleiben zumeist straflos, da sie angeblich aus patriotischer Gesinnung im Interesse des Staates gehandelt haben. Damit beginnt die Auflösung des Rechts bereits in der Weimarer Republik.

Der Mord an Maria Sandmayer

Am 6. Oktober 1920 wird im Förstenrieder Park bei München eine erwürgte junge Frau aufgefunden. Über ihr hängt an einem Baum dieses Schild:

Schild über der Leiche von Maria Sandmayer

Rasch stellt sich heraus, dass es sich bei der Ermordeten um die 19-jährige Dienstmagd Maria Sandmayer handelt. Sie wurde zum Schweigen gebracht, weil sie der geheimen Aufrüstung der Reichswehr und der Freikorps in die Quere kam. (1)

Der Vertrag von Versailles, mit dem der Erste Weltkrieg endet, wird von Nationalisten und Nationalistinnen und Monarchisten und Monarchistinnen von Anfang an als „Schandvertrag“ abgelehnt. Ihre Empörung richtet sich vor allem gegen die Verkleinerung der Reichswehr auf 100 000 Mann und die Auflösung und Entwaffnung militärischer Verbände. Reichswehr und Freikorps wollen sich mit diesen Bestimmungen des Vertrags nicht abfinden und unterlaufen sie durch eine geheime Aufrüstung. Dazu gehört das Anlegen versteckter Waffenlager.

Dabei werden sie von der rechtsgerichteten bayerischen Regierung unterstützt. Die bayerische Regierung, die sich als Gegengewicht zur „verjudeten“ Reichsregierung sieht, hat nach dem Scheitern des Kapp-Lüttwitz-Putsches Anführer und Angehörige der Freikorps aufgenommen, die sich dort als „Einwohnerwehr“ reorganisieren und bewaffnen können.

Maria Sandmayer

Die geheime Aufrüstung bleibt den Siegermächten nicht verborgen. Auf deren Druck beschließt die Reichsregierung in Berlin das sogenannte „Entwaffnungsgesetz“, das alle Bürger verpflichtet, ihnen bekannte Waffenlager bei der zuständigen Behörde anzuzeigen.

Das 19-jährige Dienstmädchen Maria Sandmayer arbeitet einige Monate vorher auf Schloss Holzen in der Nähe von Augsburg. Dabei bemerkt sie, dass dort Waffen versteckt werden.

Als sie vom Entwaffnungsgesetz erfährt, beschließt sie, ihre ehemalige Herrschaft anzuzeigen. Ohne zu ahnen, in welche Gefahr sie sich begibt, spricht sie mit Bekannten über ihr Vorhaben. Durch eine Denunziation erfährt die Landesleitung der Einwohnerwehr von der geplanten Anzeige. Am nächsten Tag ist Maria Sandmayer tot.

Fememorde als Botschaftstat

Der Mord ist eine Demonstration der Macht der Einwohnerwehren und der Schutzlosigkeit der Opfer. Die Leiche wird öffentlich ausgestellt, um zu zeigen, was „Verräter“ erwartet, die Waffenlager anzeigen.

Die Wehr- und Schutzlosigkeit der Opfer demonstrativ zur Schau zu stellen, ist ein Merkmal vieler rechter Gewalttaten. Die Nazis trieben zum Beispiel 1933 Juden und Jüdinnen (und manchmal auch mit ihnen befreundete Deutsche) in Prangerumzügen unter erniedrigenden Umständen durch die Straßen, um sie öffentlich zu demütigen. Als aktuelle Machtdemonstration, die den Opfern rechter Umtriebe ihre Schutzlosigkeit vor Augen führen soll, kann der Abruf von persönlichen Daten von Polizeicomputern und deren Verwendung für mit „NSU“ gezeichneten Drohmails gesehen werden.

Die beiden Mörder von Maria Sandmayer, Hermann Berchtold und Hans Schweighart, werden niemals verurteilt. Dem tatverdächtigen Schweighart gelingt es, nach Österreich zu fliehen, nachdem ihm die Münchner Polizei (!) einen falschen Pass ausgestellt hat. Den offensichtlichen Verbindungen der Einwohnerwehr zu der Mordtat wird niemals nachgegangen.

Schweighart wird 1921 wegen der Beteiligung an Waffenschiebereien von der Polizei in Innsbruck verhaftet und nach Bayern ausgeliefert. Auch dann kommt wegen der fortgesetzten Begünstigung durch Polizei und Justiz kein Verfahren zustande. Die Staatsanwaltschaft lehnt die Eröffnung eines Hauptverfahrens mit der vorgeschobenen Begründung ab, dass ein Jahr nach der Tat „eine volle Aufklärung nicht zu erwarten“ (2) sei. Der Münchner Polizeipräsident Ernst Pöhner war 1923 von den Putschisten Hitler und Ludendorff als bayerischer Ministerpräsident vorgesehen. (3)
Fememorde sind unter den Freikorps eine verbreitete Praxis, die später von der NSDAP übernommen wird. Die Morde richten sich gegen „Verräter“. Als Verräter gelten Mitglieder rechter Verbände, die im Verdacht stehen, Geheimnisse zu verraten, mit Sicherheitsbehörden zu kooperieren oder sich von den rechten Paramilitärs abwenden. „Verräter“ können wie Maria Sandmayer auch Außenstehende sein, die sich „unpatriotisch“ verhalten, indem sie Straftaten bei den Behörden melden oder sich bei Ermittlungs- oder Gerichtsverfahren als Zeugen und Zeuginnen zur Verfügung stellen.

In den Jahren 1918 bis 1922 sind rund 50 Fememorde bekannt geworden. Dabei ist die Dunkelziffer hoch, da im Umfeld der Täter in der Regel Stillschweigen gewahrt wird oder Absprachen zur Vertuschung der Taten erfolgen. Da Mitglieder der Freikorps und militanter rechter Verbände einem Ehrenkodex mit einer Schweigeverpflichtung unterliegen und bei ihrer Missachtung Strafmaßnahmen der Organisation fürchten müssen, ist die Aufklärung von Straftaten – so sie überhaupt ernsthaft betrieben wird – und deren Verurteilung oft schwierig. Dies zeigt sich beispielhaft an der bis heute unaufgeklärten Ermordung des Abgeordneten Karl Gareis (USPD), der sich immer wieder gegen die bayerischen Einwohnerwehren und die geheime Aufrüstung gewandt hat. Auch bei den späteren Gerichtsverfahren gegen die Attentäter auf Matthias Erzberger, Philipp Scheidemann und Walther Rathenau folgen die Angeklagten der Prozessregie, sich als Einzeltäter darzustellen und so von der hinter den Anschlägen und Morden stehenden Organisation Consul abzulenken. (4).

Die Auflösung des Rechts – vom „Staatsnotstand“ zum Ermächtigungsgesetz

Die geheime Aufrüstung, deren Opfer Maria Sandmayer letztlich geworden ist, bleibt auch in den folgenden Jahren Staatsraison der Weimarer Republik. Überall werden Wehrbünde gegründet, Wehrübungen abgehalten und geheime Waffenlager angelegt. Es entsteht ein Netzwerk, das bis ins kleinste Dorf reicht. Polizei und Justiz decken in der Regel diese gesetzwidrige, aber als „vaterländisch“ geltende Praxis, während gesetzes- und verfassungstreues Verhalten als unpatriotisch denunziert wird und nicht selten ins Gefängnis führt.

Alt text

Aufmarsch des Freikorps Epp.

Paramilitärische Verbände finden nach der Niederschlagung des Kapp-Lüttwitz-Putsches in der „Ordnungszelle Bayern“ wohlwollende Aufnahme und Unterstützung durch die Landesregierung. Die geheime Bewaffnung mit schweren Waffen wird von der bayerischen Regierung geduldet und gedeckt.

 

Die Folge ist eine paradoxe Praxis, die letztlich zur Auflösung des Rechtssystems führt. Die Täter, die illegale Waffenlager anlegen, verbotene Wehrübungen abhalten, Fememorde begehen oder decken, werden, soweit es überhaupt zu einer Anklage kommt, regelmäßig freigesprochen. Ihnen wird zugebilligt, in „glühender Vaterlandsliebe“ stellvertretend für den Staat gehandelt zu haben, dem durch den Versailler Vertrag und die eigenen Gesetze die Hände gebunden sind. Gesetzesbruch wird damit zu einem Akt legitimer Notwehr und zugleich zum Ausweis patriotischer Gesinnung erklärt. Umgekehrt wird Pazifisten und Pazifistinnen und Republikanern und Republikanerinnen, die die Gesetzesbrüche anklagen und bekannt machen, niedrige Gesinnung und Verrat unterstellt. In jedem einzelnen Jahr der Republik werden mehr Menschen als „Landesverräter“ verurteilt als in den vorausgegangenen drei Jahrzehnten der Monarchie zusammen. (5)

Die Folge dieser Rechtsprechung ist, so die SPD-Reichstagsfraktion 1924

eine Gefahr für die Republik, insofern sie Organisationen, die staatsfeindlich und monarchistisch sind, die Möglichkeit der Waffenrüstung gewährt, ohne der republikanischen Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, sich dagegen zu wehren oder auf die Einhaltung von Recht und Gesetz zu bestehen. (6)

Eine solche Praxis, so der Rechtsprofessor Hugo Sinzheimer, „erschüttert nicht nur die Rechtsordnung. Sie löst sie auf“. (7)

Besonders deutlich wird dies an dem „Ponton-Urteil“ des Reichsgerichts gegen die Journalisten Bertold Jacob und Bernd Küster. Am 31. März 1925 ertrinken bei einem Reichswehrmanöver 81 Soldaten beim Übersetzen über die Weser. Die beiden Journalisten finden bald heraus, dass unter den Ertrunkenen 11 Zivilisten – sogenannte Zeitfreiwillige – waren. Dies steht im krassen Gegensatz zu den öffentlichen Beteuerungen der Reichswehrführung, es gebe keine Zeitfreiwilligen und keine gemeinsamen Manöver von Reichswehr und Zivilisten. Dennoch verurteilt das Reichsgericht die Journalisten wegen Geheimnisverrats zu je 9 Monaten Haft. Die entscheidenden Sätze in der Urteilsbegründung lauten:

Dem eigenen Staat hat jeder Staatsbürger die Treue zu halten. Das Wohl des eigenen Staates wahrzunehmen, ist für ihn oberstes Gebot, Interessen eines fremden Landes kommen für ihn demgegenüber nicht in Betracht. Auf die Beobachtung und Durchführung der bestehenden Gesetze hinzuwirken, kann nur durch Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe geschehen. (8)

Die Botschaft des Urteils ist: Die Interessen des Staates stehen über dem Gesetz. Deshalb sind selbst schwerste Verbrechen nicht strafbar, wenn sie im Interesse des Staates geschehen. Umgekehrt ist gesetzeskonformes Verhalten nicht geschützt, sondern strafbar, wenn es den Interessen des Staates zuwiderläuft.

Die Konstruktion eines „Staatsinteresses“, das über Recht und Verfassung stehe und eines „Staatsnotstandes“, dessen Behebung die Beseitigung der Grundrechte erfordere, wird später von den Nationalsozialisten aufgegriffen. So wird das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 mit einem „Staatsnotstand“ begründet. Deshalb heißt das Gesetz zur faktischen Beseitigung der Demokratie auch offiziell: Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Zum Mord an Maria Sandmayer siehe auch: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchner-geschichte-das-kurze-leben-der-maria-sandmayr-1.5054992
In der Literatur finden sich unterschiedliche Schreibweisen des Namens: Sandmayer und Sandmayr.

(2) Die Münchner Polizei hat ihre Verstrickung in die republikfeindlichen Aktivitäten in den Jahren 1918–1933 und ihre willfährige Beteiligung an den Verbrechen des NS-Regimes in einer Ausstellung aufgearbeitet. Siehe dazu auch: tz 9.12.2012, Das dunkelste Kapitel der Münchner Polizei: https://www.tz.de/muenchen/stadt/dunkelste-kapitel-muenchner-polizei-2603442.html

(3) Ulrike Claudia Hoffmann: Verräter verfallen der Feme! Fememorde in Bayern in den zwanziger Jahren, 2000, S. 142.

(4) Allgemein zu den Fememorden: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fememorde

(5) Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 1989, S.32

(6) zit. nach Müller, Furchtbare Juristen, S.32

(7) Hugo Sinzheimer: Die Legalisierung des politischen Mordes, in: Die Justiz, Band 5 1929/1930, S. 69, zit. nach: Ingo Müller, S.32

(8) Reichsgericht Staatsgerichtshof, Urteile Bd. 62, S. 65, zit., nach: Ingo Müller, S.33

 

Fotonachweise:

Schild über der Leiche von Maria Sandmayer: Staatsarchiv München, GStaW beim OLG, Nr. 24

Maria Sandmayer: Staatsarchiv München, Pol. Dir. 8099/III

Aufmarsch des Freikorps Epp.: Bundesarchiv, Bild 146-1970-058-04 / Hoffmann / CC-BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1970-058-04,_Bayerisches_Sch%C3%BCtzenkorps_EPP.jpg