Einzeltäter?

Immer wieder wird bei rechtsterroristischen Anschlägen und Morden von „Amokläufen“ und „Einzeltätern“ gesprochen. Tatsächlich sind rechtsterroristische Morde immer in rechte Ideologien und Strukturen eingebunden. Den Verzicht darauf, Zusammenhänge aufzudecken und Netzwerke zu zerschlagen, haben Dutzende von Menschen mit ihrem Leben bezahlt.

„Harmlose Spinner“ üben den Bürgerkrieg

Am 26. September 1980 explodiert beim Münchner Oktoberfest eine Bombe, die 13 Menschen tötet und mehr als 200 Menschen teils schwer verletzt. Das Oktoberfestattentat ist bis heute der schwerste terroristische Anschlag in der Bundesrepublik. Als Täter gilt der Student Gundolf Köhler, ein fanatischer Neonazi, der Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG) ist und dort in Guerillatechniken ausgebildet wird. Köhler, der kurz nach dem Attentat tot aufgefunden wird und deshalb wie später Uwe Behrendt, der Mörder von Shlomo Lewin und Frida Poeschke nicht mehr vernommen werden kann, gilt den Behörden schnell als frustrierter „Einzeltäter“, der mit seinem Leben nicht zurechtkommt. Die Verbindungen in die rechte Szene, insbesondere zur Wehrsportgruppe Hoffmann, werden nicht geklärt. Wieder verschwinden Beweismittel, wieder bleibt die Rolle des Verfassungsschutzes offen. Erst 2020, nach vierzig Jahren, wird anerkannt, dass das Attentat politisch motiviert war. (1)

Die 1973 gegründete Wehrsportgruppe Hoffmann wird von Regierung und Behörden in Bayern jahrelang verharmlost. So kann sie den Bürgerkrieg üben und als „Ordner“ bei neonazistischen Veranstaltungen und Aufmärschen den geplanten Umgang mit politischen Gegner*innen schon mal üben. Hoffmann bezeichnet sich selbst als „Faschist“ und erklärt in einem Interview mit dem Magazin Panorama:

Es wäre doch ganz einfach töricht zu leugnen, dass Adolf Hitler genial war und zweifellos sehr viele Dinge gemacht hat, wo wir heute langsam wieder drauf kommen, sie wieder zu tun. (2)

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Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest

Der rechte Hintergrund wurde erst nach 40 Jahren offiziell anerkannt. Die Einzeltäterthese ist bis heute umstritten

Ungeklärt ist bis heute eine weitere höchst beunruhigende Spur. Im Oktober 1980 ist die Wahl zum Bundestag, bei der der rechtslastige Populist Franz-Josef Strauß Kanzlerkandidat der CDU/ CSU ist. Köhler hatte gegenüber Freunden erklärt, man könne doch einen Bombenanschlag in Bonn, Hamburg oder München verüben. Nach dem Anschlag „könnte man es den Linken in die Schuhe schieben, dann wird der Strauß gewählt”. (3)

Ähnliches hatten Neofaschisten in Italien bereits vorgemacht. Nur acht Wochen zuvor hatte ein Bombenanschlag den Bahnhof von Bologna verwüstet, 85 Menschen starben, 200 wurden verletzt. Das rechtsextreme Attentat wurde zunächst als Tat linker Terroristen dargestellt. Es war eine Strategie, die Köhler und andere Rechtsradikale in der Bundesrepublik offenbar faszinierte. Eine Serie von Bombenanschlägen sollte im Land Angst erzeugen; in dieser Atmosphäre könnte dann eine neue nationalsozialistische Diktatur vorbereitet werden. (4)

Das Münchner Oktoberfestattentat und der kurz darauffolgende Mord an Shlomo Lewin und Frieda Poeschke hätten die Chance geboten, rechtsterroristische Netzwerke zu durchleuchten und zu zerschlagen. Diese Chance wird verpasst und stattdessen die bequeme These vom „Einzeltäter“ präsentiert. Diese These wird regelmäßig aufgegriffen – bei den meisten der mehr als 200 Todesopfern rechter Gewalt seit 1990, bei vielen Tausend Gewalttaten und Anschlägen, bei den NSU-Morden, den Morden beim Münchner Olympiazentrum, dem Anschlag von Halle oder den Hanauer Morden.

Nichts gelernt?

Haben Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz etwas aus der Blamage bei den Ermittlungen zu den Morden an Shlomo Lewin und Frieda Poeschke gelernt? 25 Jahre später beginnt die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), der auch drei in Nürnberg lebende Migranten zum Opfer fallen. Wieder werden die Mörder unter den Migrant*innen gesucht, Angehörige der Opfer verdächtigt und die Getöteten in den Schmutz gezogen. Spuren in Richtung Rechtsterrorismus werden ebenso wie bei dem Nagelbombenanschlag in Köln nicht hinreichend verfolgt. Nach der Selbstenttarnung der Täter wird von deren „Alleintäterschaft“ ausgegangen und die Existenz eines rechtsterroristischen Netzwerkes, das die Taten erst ermöglicht hat und weiterbesteht, bestritten. Die Rolle des Verfassungsschutzes wird nicht aufgeklärt, Dokumente werden vernichtet, geschwärzt oder der Öffentlichkeit vorenthalten.

Am 22. Juli 2016 erschießt der 18-jährige Deutsch-Iraner David Sonboly im Münchner Olympia Einkaufzentrum neun Menschen und verletzt weitere fünf. Danach tötet er sich selbst. Sieben der Opfer sind Muslim*innen, die anderen zwei Opfer ein Rom und ein Sinto. Sonboly hat die Opfer teilweise wegen ihres „fremdländischen Aussehens“ ausgewählt und durch Versprechungen an den Tatort gelockt. Er begeht seine Tat demonstrativ am fünften Jahrestag der Anschläge des von ihm verehrten norwegischen Massenmörders Anders Breivik. Trotz der offenkundigen und unbestrittenen rechtsradikalen Gesinnung des Täters wird zunächst von einem „Amoklauf“ eines „psychisch gestörten Einzeltäters“ ausgegangen, der sich für Mobbingerlebnisse rächen will. Dieses Bild wird erst Jahre später korrigiert – unter anderen deshalb, weil die Behörden von außen darauf hingewiesen werden, dass Sonboly im Internet Kontakt mit rechtsterroristischen Gruppen und Personen hatte, die genau solche Attentate propagieren und dafür Know-how zur Verfügung stellen. Sonboly wird wie Breivik, der Christchurch-Attentäter oder die Mörder von Halle und Hanau zum Prototyp des „Alleintäters“ erklärt, der sich im Internet radikalisiert. Solche potentiellen Mörder aufzuspüren, sei wie die Suche nach der berühmten „Nadel im Heuhaufen“.

Die These vom Einzeltäter ignoriert, dass rechtsterroristische Morde immer in einem Umfeld stattfinden, in dem der Täter sich radikalisieren, austauschen und bewaffnen kann, dass sie also die Existenz rechtsterroristischer Ideologien, Strukturen und Plattformen voraussetzen. Zudem geschehen die Morde in der Überzeugung, nicht nur den persönlichen Hass auszuleben, sondern stellvertretend für viele zu handeln, die den Hass teilen, die Taten bewundern und sich davon inspirieren lassen.

„… und dann schlägt jemand zu“

Stochastik ist die mathematische Lehre von Zufall und Wahrscheinlichkeit. Der Begriff des „Stochastischen Terrorismus“ beschreibt eine Form des Terrorismus, der darauf setzt, dass Hass und Hetze vor allem im Internet Gewalttaten auslösen.

Hetzer erreichen ein Millionenpublikum und mit den richtigen Hassbotschaften kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sich einer davon berufen fühlt, selbst zur Waffe zu greifen. (5)

Die Scharfmacher*innen im Hintergrund können sich halbherzig von der Tat distanzieren und empört jede Mitverantwortung zurückweisen. Schließlich habe man die Tat eines „psychisch verwirrten Einzeltäters“ nicht vorhersehen können und nichts mit ihr zu tun.

Die Abgeordnete im Europaparlament Marina Weisband beschreibt die Abläufe so:

Stochastischer Terrorismus funktioniert so: niemand wird ausgebildet. Niemand gibt einen Befehl. Es wird nur so lange radikalisiert, bis die WAHRSCHEINLICHKEIT, dass etwas passiert, wächst. Und dann schlägt jemand zu. Irgendwann. Irgendwo….

Und wir haben keine Terrorzelle, keine Schuldigen, die einen Auftrag gegeben hätten. Wir sagen ‚Einzeltäter‘. Aber das ist es nicht. Es ist systematischer Terror. Und jeder, der ihre Geschichten erzählt, hilft ihnen bei der Fortsetzung. (6)

Siehe dazu auch Thema: Hass und rechte Gewalt im Internet

Hate Speech

Um Gewalt zu erzeugen, muss man nicht direkt zu Gewalt und Terror aufrufen. Es genügt, Sprachmuster und Begriffe zu verwenden, die den Hass schüren, enthemmen und so der Gewalt den Weg bahnen. Das Projekt „Dangerous Speech“ der Harvard University untersucht seit 2010 solche Begriffe und Sprachmuster. (7) Die Sprache, aus der Gewalt erwächst, lässt sich danach wie folgt zusammenfassen:

  • Entmenschlichung der potentiellen Opfer durch ihre Gleichsetzung mit Tieren (Schwarze Menschen als Affen), mit Naturkatastrophen (Geflüchtete als Flut, Welle oder Schwemme), durch ihre Abwertung (Gesindel und Taugenichtse) oder ihre ständige Verknüpfung mit Problemen oder Gefahren (alimentierte Messerstecher);
  • Täter-Opfer-Umkehr: die Selbstinszenierung der Hetzer*innen als Opfer von Gewalttaten und Verleumdungen, während umgekehrt Gewalt und Hetze gegen verwundbare Gruppen wie Geflüchtete völlig ausgeblendet werden;
  • Verbunden mit der Täter-Opfer-Umkehr ist die Rede vom erlittenen Unrecht und der Erniedrigung, die zur Notwehr auch durch Gewalt berechtigt. Die Behauptung eines „Verrats“ macht den angeblichen Verräter zur Zielscheibe. Da der „Verräter“ aus dieser Sicht das Böse und Hinterhältige verkörpert und zugleich eine existentielle Gefahr darstellt, werden Hemmschwellen abgebaut und beseitigt;
  • Instrumentalisierung von Schutzimpulsen: deutsche Frauen etwa werden als regelmäßiges Opfer sexualisierter Gewalt von Geflüchteten dargestellt, sodass Gewalt gegen Geflüchtete als Schutz ansonsten wehrloser Frauen verstanden und dargestellt werden kann. Umgekehrt wird häusliche Gewalt gegen Frauen durch deutsche Männer und Gewalt gegen geflüchtete Frauen ignoriert;
  • Verwendung doppeldeutiger Sprachcodes, die harmlos klingen, aber als Aufforderung zur Gewalt verstanden werden können, zum Beispiel: „Wir werden uns unser Land zurückholen“;
  • Behauptung einer Verschmutzung, Vergiftung oder eines Abstiegs durch fremde Einflüsse, Kulturen und Menschen, durch Demokratie, Liberalismus oder politisch Andersdenkende, die eine „Reinigung“ erfordere („in Anatolien entsorgen“).

Hate Speech im Internet wird mehr und mehr zur Gefahr für die Demokratie und die Menschenrechte. Noch fehlen weitgehend Konzepte, Maßnahmen und oft auch der politische Wille, dieser Gefahr zu begegnen.

Tickende Zeitbomben

Allerdings besteht neben den Gefahren durch einen „neuen Tätertyp“ nach wie vor die Bedrohung durch „traditionell“ agierende rechte Terrorist*innen, die Netzwerke bilden, sich bewaffnen, militärisch ausbilden und Todeslisten erstellen (8). Eher am Rande wird bekannt, dass in Deutschland rund 600 rechtskräftig verurteilte Neonazis untergetaucht sind und sich dadurch einer Haftstrafe entziehen. Von einer intensiven Suche nach diesen tickenden Zeitbomben ist nichts bekannt. Unerwähnt bleibt auch, dass eine solch große Zahl von Gewalttäter*innen nur untertauchen kann, wenn Netzwerke existieren, die sie schützen. Auch diese Netzwerke bleiben im Dunkeln. (9)

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Demonstration nach dem antisemitischen Attentat in Halle, Berlin 2019

 

Zu den Morden an Shlomo Lewin und Frida Poeschke siehe: 1980 – das Jahr des rechten Terrors
Zu den NSU-Morden siehe: Die NSU-Mordserie – viele Fragen, wenig Aufklärung
Zum Anschlag von Halle siehe: Antisemitismus von 1945 bis heute
Zu den Morden von Hanau siehe: Die rassistischen Morde von Hanau

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) siehe dazu: Ulrich Chaussy: Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen, Berlin 2020; einen hervorragenden Überblick mit aktuellen Bezügen gibt: https://www.juedische-allgemeine.de/gemeinden/die-verbindung-liegt-auf-der-hand/

(2) Zur Wehrsportgruppe und den Umgang der bayerischen Behörden mit ihr siehe: https://www.deutschlandfunkkultur.de/wehrsportgruppe-hoffmann-eine-geschichte-staatlichen.976.de.html?dram:article_id=469087

(3) https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-81136824.html

(4) siehe dazu ausführlich: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-81136824.html

(5) https://www.volksverpetzer.de/analyse/hetze-fuehrt-zu-hanau/
Siehe dazu auch Thema 5.8 „Die Strategie der Gewalt“

(6) Maria Weisband, @Afelia, 20.2.2020

(7) https://dangerousspeech.org/what-we-do/

(8) zu den Todeslisten ausführlich: https://www.belltower.news/rechtsextreme-todeslisten-und-feindeslisten-eine-uebersicht-86763/

(9) Auf Anfrage der Linken teilte die Bundesregierung 2018 mit, dass 470 vorbestrafte Rechtsradikale per Haftbefehl gesucht werden (Euronews, Neue Osnabrücker Zeitung 4.12.2018). Auf eine erneute Anfrage im Jahr 2021 hin gab die Bundesregierung die Zahl der per Haftbefehl gesuchten Rechtsextremisten mit mittlerweile 596 an (Stand 30. September 2021, Bericht fr vom 30.12.2021).

 

Fotonachweise:

Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest: IMAGO / WEREK, https://www.imago-images.de/

Demonstration nach dem antisemitischen Attentat in Halle, Berlin 2019: IMAGO / IPON, https://www.imago-images.de/