Antisemitismus von 1945 bis heute

„Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz“ – das ist die Standardaussage der Politik nach antisemitischen Anschlägen. Die Fakten zeigen das Gegenteil. Auch wenn der Antisemitismus nach 1945 nicht mit dem Judenhass in der Weimarer Republik vergleichbar ist, lebt er in Deutschland fort.

Hitler ging, der Antisemitismus blieb

Auch der Zusammenbruch des NS-Regimes und die schrecklichen Bilder aus den Vernichtungslagern führen zu keiner vollständigen Umkehr. Die jahrzehntelange Judenhetze wirkt bei vielen Menschen weiter. Das Fortleben judenfeindlicher Einstellungen in weiten Teilen der Bevölkerung veranlasst die Militärregierung in der amerikanisch besetzten Zone, zu der damals Hessen gehört, im Dezember 1946 zu einer Antisemitismus-Studie. Diese ergibt, dass lediglich 20 Prozent der Bevölkerung nicht antisemitisch und nicht rassistisch eingestellt sind. Eine weitere Umfrage aus dem Jahr 1948 bestätigt diese Ergebnisse. Der Report „Anti-Semitism in Germany“ berichtet darüber hinaus, dass sich der Antisemitismus erneut in Form gewalttätiger Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden, bürokratischer Sabotage bei der Versorgung verfolgter Jüdinnen und Juden, Friedhofsschändungen und anonymer judenfeindlicher Briefe an Zeitungen und Einzelpersonen ausdrückt. (1)

Der neu aufflammende Judenhass entzündet sich vor allem an den Displaced Persons (DP), zu denen vor allem jüdische Überlebende des Holocaust und ehemalige russische Kriegsgefangene gehören. Angehörige dieser Gruppen, die in Hessen rund 80 000 Personen umfassen, sind teils in Lagern, teils in beschlagnahmten Privathäusern untergebracht. Den von der KZ-Haft ausgezehrten und halb verhungerten jüdischen DPs wird besonders geneidet und vorgeworfen, dass sie zusätzliche Lebensmittelrationen erhalten. Sie werden als „Deutschlands Parasiten“ verunglimpft, die nicht arbeiten, Schwarzhandel treiben und auf Kosten des hungernden deutschen Volkes große Vergünstigungen bekommen. (2)

Vielfach dient die Diffamierung der jüdischen Überlebenden dazu, den Holocaust im Nachhinein zu rechtfertigen. So erscheint am 9. August 1949 in der Süddeutschen Zeitung der Leserbrief eines „Adolf Bleibtreu“ (!), in dem die Holocaust Überlebenden aufgefordert werden:

Geht doch nach Amerika, aber dort können Sie Euch auch nicht gebrauchen, sie haben genug von diesen Blutsaugern. Ich bin beim Ami beschäftigt, und da haben verschiedene schon gesagt, dass sie uns alles verzeihen, nur das eine nicht, und das ist: daß wir nicht alle vergast haben…

Auch in der Polizei wirkt das antisemitische Feindbild weiter. Ein Beispiel dafür ist München, in dem rund 8000 jüdische Displaced Persons untergekommen sind. Diese Überlebenden des Holocausts leben vor allem in der Möhlstraße, in der ein kleiner jüdischer Mikrokosmos mit Geschäften, Kindergarten, Schule und Ärzten entsteht. Ein interner Bericht des Polizeireviers 21 bezeichnet die Straße im Nazi-Jargon als „Pestbeule fürs Münchner Stadtbild“. Man treffe dort „lichtscheues Gesindel mit Verbrecher-Physiognomie“. Der Polizeipräsident bedauert ausdrücklich die Intervention der amerikanischen Militärpolizei, die die deutsche Polizei bei einer Demonstration jüdischer DPs gegen den wachsenden Antisemitismus „an der endgültigen Säuberung des Aufruhrortes“ gehindert habe. (3)

Mit Argwohn begegnen viele den jüdischen Emigrantinnen und Emigranten, die vor den Nazis geflohen waren und nun zurückgekehrt sind, um an der Entnazifizierung und dem Aufbau einer demokratischen Ordnung mitzuwirken. Diese Re-Emigrantinnen und Re-Emigranten sind häufig als Dolmetscher bei Entnazifizierungsverfahren eingesetzt. Daraus wird der Vorwurf konstruiert, dass „die Juden“ sich mit Hilfe der „Siegerjustiz“ an den Deutschen rächen.

Generell erweist es sich für die amerikanische Militärregierung als schwierig, unbelastete und zuverlässige Personen zu finden, denen ein demokratischer Neuaufbau anvertraut werden kann. Eine solche Persönlichkeit ist der Sozialdemokrat und ehemalige KZ-Häftling Gottlob Binder. Er wird 1945 von der amerikanischen Militärverwaltung als hessischer Minister für „Wiederaufbau und politische Bereinigung“ (später politische Befreiung) eingesetzt. Damit fällt die Umsetzung des alliierten „Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus“, gemeinhin „Entnazifizierung“ genannt, in seine Zuständigkeit. Binder versucht immer wieder, dem Antisemitismus zu begegnen. Mit dem Beginn des Kalten Krieges und der Restauration in der Bundesrepublik wird er wie viele Antifaschistinnen und Antifaschisten der ersten Stunde mehr und mehr zurückgedrängt.

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Kopfzeile einer von Gottlieb Binder herausgegebenen Flugschrift gegen den grassierenden Antisemitismus

75 Jahre antisemitische Schändungen, Anschläge und Morde

Schändungen und Verwüstungen jüdischer Friedhöfe, Brandanschläge auf Synagogen und Angriffe auf Jüd*innen sind seit dem Ende des NS-Regimes und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis heute auf der Tagesordnung. Dabei ist die Zahl der registrierten Vorfälle und Straftaten beständig gewachsen. Seit 2001 bewegen sich die Zahlen des Bundesministeriums des Inneren bei rund 1500. Durchschnittlich werden also täglich vier Straftaten mit antisemitischem Hintergrund in Deutschland verübt. Die Zahlen sind seit 2018 erneut gestiegen. 2018 kam es zu 1799 Vergehen, im Jahr davor waren es 1504. (4)

Bei den Zahlen des Bundesministeriums des Inneren ist allerdings von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Viele Taten werden nicht zur Anzeige gebracht oder nicht als antisemitisch gewertet. Die 2018 gegründete Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS), die bisher ihre Arbeit in einigen Bundesländern aufgenommen hat, kommt zu deutlich höheren Zahlen. So registrierte und dokumentierte RIAS im Jahr 2018 allein in Berlin 1083 antisemitische Vorfälle. (5)

Der Journalist Ronen Steinke hat zu den Anschlägen eine Chronik veröffentlicht, die bis 1945 zurückreicht. Obwohl bei weitem nicht vollständig, weist sie auf 90 Buchseiten rund 1000 Schändungen und Anschläge aus. Dabei wird auch eine Entwicklung deutlich: nach Kriegsende konzentrieren sich die Attacken zunächst auf jüdische Friedhöfe und Einrichtungen. Danach werden immer häufiger Holocaust-Gedenkstätten zum Ziel der Angriffe. Parallel dazu richten sich Drohungen und Angriffe immer mehr gegen Personen – teils aufgrund des jüdischen Glaubens und der Herkunft, teils aufgrund des Engagements der Angegriffenen. (6)

Antisemitische Schändungen, Hassbotschaften, Drohungen und Anschläge finden zumeist nur wenig öffentliche Beachtung. Die Taten werden vielfach verharmlost und als „Einzeltaten“ dargestellt. Nur wenige Anschläge rütteln die Öffentlichkeit kurzfristig auf. Bald jedoch lässt das Interesse nach. Die übliche Verharmlosung und Entpolitisierung der Taten verhindern, dass der Antisemitismus als fortbestehendes Problem benannt wird und wirksame Konsequenzen gezogen werden. Dies verdeutlicht ein Rückblick.

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Immer wieder werden jüdische Friedhöfe geschändet

Rückblick auf 75 Jahre antisemitische Anschläge

Schändungen jüdischer Friedhöfe und Einrichtungen geschehen immer wieder, ohne dass dies zu großer öffentlicher Aufmerksamkeit führt. Weihnachten 1959 wird die Kölner Synagoge mit Hakenkreuzen und „Juden raus“ Parolen beschmiert. Die Täter, beide Mitglieder der neonazistischen Deutschen Reichspartei, übergießen zudem die Inschrift eines Mahnmals für Opfer der Gestapo mit schwarzer Farbe. Sie werden bereits am nächsten Tag festgenommen.

Die großen Medien berichten über den Vorgang, der auch im Ausland bekannt wird. Weite Teile der Öffentlichkeit zeigen sich betroffen und empört. Gleichzeitig aber löst die Schändung eine Welle weiterer antisemitischer Aktionen in ganz Deutschland aus. Bis zum 15. Februar 1960, also innerhalb von knapp zwei Monaten, zählt die Bundesregierung 833 Taten. (7)

Noch während Ermittlungen und das Gerichtsverfahren laufen, greift bereits wieder die übliche Verharmlosung und Entpolitisierung. Bundeskanzler Adenauer bezeichnet die Täter, die Mitglieder der neonazistischen Deutschen Reichspartei sind, als ungezogene „Lümmel“ und macht so aus einer neonazistischen Botschaftstat einen „dummen Jungenstreich“. Bald ebbt die antisemitische Welle ab. Obwohl die Schändungen – zwar in geringerer Anzahl, aber doch regelmäßig – weitergehen und immer wieder bei politischen Zuspitzungen zunehmen, erlischt das öffentliche Interesse mehr und mehr.

Am 7. Februar 1970 verüben bis heute unbekannte Täter einen Brandanschlag auf das Altenheim der israelitischen Kultusgemeinde in München. Sieben jüdische Münchnerinnen und Münchner sterben: zwei Frauen und fünf Männer, darunter zwei Holocaust-Überlebende.

1980 wird der Rabbiner Shlomo Lewin zusammen mit seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke erschossen. Täter ist der Neonazi Uwe Behrendt, der als rechte Hand des Anführers der Wehrsportgruppe Hoffmann gilt. Die Behörden ermitteln über Monate in der jüdischen Gemeinde. Als endlich den Spuren zur Wehrsportgruppe nachgegangen wird, hat sich Behrendt längst in den Libanon abgesetzt. Erneut wird das Umfeld des Täters nicht ausgeleuchtet. Den Morden vorausgegangen ist im selben Jahr eine Reihe von Bombenanschlägen auf Erinnerungsorte des Holocausts durch die „Deutschen Aktionsgruppen“.

Mit der deutschen Vereinigung 1990 setzt eine Welle rechter Gewalt ein. Opfer ist unter anderem die Holocaust Überlebende Blanka Zmigrod, die von einem schwedischen Rechtsterroristen erschossen wird. Der 53-jährige Karl-Hans Rohn wird von Mitgliedern der „Nationalistischen Front“ angezündet („Juden müssen brennen“) und danach ermordet, weil er für einen Juden gehalten wird. Der 92-jährige Shoah-Überlebende Alfred Salomon wird in einem Altersheim von einem ehemaligen Obersturmführer der „Organisation Todt“ wegen seiner jüdischen Herkunft beschimpft und geschlagen. In Folge des Angriffs erleidet Salomon einen Herzinfarkt und stirbt. (8) Im selben Jahr 1992 wird das Deportationsmahnmal Putlitzbrücke in Berlin durch einen Sprengstoffanschlag schwer beschädigt. Das 1993 wiederaufgebaute Denkmal wird immer wieder mit antisemitischen Parolen beschmiert.

In der Nacht zum 25. März 1994 geht die Lübecker Synagoge in Flammen auf. Der erste Synagogenbrand nach 1945 weckt Erinnerungen an die an die nationalsozialistische Vergangenheit und löst weltweit Entsetzen aus. 1995 werden vier Männer aus der rechtsextremen Szene in Lübeck zu Haftstrafen zwischen zweieinhalb und viereinhalb Jahren verurteilt. Am 7. Mai 1995 folgt ein weiterer Brandanschlag auf die Synagoge.

Am 27. Juli 2000 werden bei einem Anschlag mit einer Splitterbombe am Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn zehn Menschen teils schwer verletzt. Ein ungeborenes Kind stirbt im Leib der Mutter. Der Anschlag gilt einer Gruppe von Sprachschülern aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Hälfte davon ist jüdischer Herkunft. Bereits vor dem Anschlag werden sie mehrfach von Neonazis bedroht. Der Verdächtige Ralf S. lobt den Anschlag als gelungene Vertreibungsaktion und prahlt in den Jahren danach mit der Tat. 2018 spricht ihn das Düsseldorfer Landgericht mangels ausreichender Beweise frei. Wieder wird Kontakten in die rechte Szene nicht nachgegangen. Polizei und Staatsanwaltschaft erklären sogar, eine solche Szene gäbe es in Düsseldorf nicht.

Ralf S. betrieb direkt gegenüber der Sprachschule einen Militaria-Laden. Er beschäftigte zur Zeit des Anschlags einen V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes mit einer auffälligen „Blood & Honour“ Tätowierung. Warum sollte ein V-Mann eingeschleust werden, wenn es, wie behauptet, gar keine rechtsextreme Szene gibt? (9)

Dem Anschlag auf die Lübecker Synagoge folgen weitere Anschläge und Gewalttaten. Im November 2003 wird ein Anschlag der neonazistischen „Kameradschaft Süd“ bei der Grundsteinlegung des jüdischen Gemeindezentrums in München nur knapp verhindert. Die Polizei findet bei den Tätern konkrete Anschlagspläne und 14 Kilogramm Sprengstoff. Allein im Jahr 2010 werden folgende Anschläge verübt: im brandenburgischen Zossen wird das Haus der Demokratie, in dem eine Ausstellung zum Jüdischen Leben gezeigt wird, bei einem Brandanschlag durch Neonazis verwüstet (23. Januar 2010). Es folgen Anschläge auf die Wormser Synagoge (17. Mai 2010), die Totenhalle des jüdischen Friedhofs in Dresden (29. August 2010) und die Mainzer Synagoge (30. Oktober 2010). (10)

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Antisemitismus als zentraler Bestandteil rechter Gewalt

Verkohlte Reste der jüdischen Ausstellung „Für Juden Verboten“ in Berlin nach einem Brandanschlag, 1999

Der Anschlag von Halle

Schlägt ein Islamist irgendwo in einem westlichen Land zu, dann betrachtet die westliche Welt das in der Regel als Teil eines großen Ganzen. Die Tatorte mögen sich unterscheiden, die Tatmotive nicht … Schlägt dagegen ein hellhäutiger Rassist irgendwo zu, ein Antisemit oder Muslimhasser, dann sah man das häufig eher als örtliches Phänomen …. Einzelfälle, überall Einzelfälle. (11)

Der Täter von Christchurch, der am 15. März 2019 beim Angriff auf zwei Moscheen 51 Menschen ermordet, beruft sich auf den Massenmörder Anders Breivik. Er hinterlässt ein „Manifest“, in dem er vom „Großen Austausch“ und der deshalb erforderlichen Vernichtung der „muslimischen Invasoren“ spricht. Diese Vernichtung schließt ausdrücklich auch Kinder ein, um die Invasoren an einer zukünftigen Vermehrung zu hindern. Er überträgt die Bluttat per Livestream, um überall auf der Welt Nachahmer zu finden. Die Tat soll ein Fanal sein.

Einer dieser Nachahmer ist der Attentäter von Halle. Er versucht an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, in die Synagoge einzudringen und die dort Versammelten zu töten. Der Attentäter trägt eine Helmkamera, mit der er den Angriff aufnimmt und per Livestream im Internet verbreitet. Der Anschlag am 9. Oktober scheitert an der Robustheit der Eingangstür, die verhindert, dass der Rechtsterrorist in die Synagoge gelangt. Offenbar aus Frust über den missglückten Anschlag erschießt er vor dem Gebäude wahllos die Passantin Jana Lange und kurz darauf in einem Döner-Imbiss den Gast Kevin Schwarze. Auf seiner Flucht verletzt er zwei Personen durch Schüsse und versucht weitere Passanten zu erschießen. Er wird gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt.

Eingangstür der Synagoge Halle. Sie hielt dem Attentäter stand. Eine private Spende ermöglichte ihre Erneuerung und rettete Dutzenden von Menschen das Leben.

Kurz vor dem Anschlag erscheint im Internet ein Bekennerschreiben des Attentäters. Er sieht sich wie seine Vorbilder Breivik und der Christchurch Attentäter in einem „Rassenkrieg“, in dem alle Mittel erlaubt sind. Ursprünglich habe er eine Moschee stürmen oder eine Antifa-Einrichtung angreifen wollen. Da jedoch die Juden als Drahtzieher hinter der Einwanderung nach Europa steckten, habe er möglichst viele Juden umbringen wollen und deshalb auch einen Tag gewählt, an dem sich viele Menschen in der Synagoge befinden.

Der Attentäter von Halle bedauert, dass man gar nicht so viele Muslim*innen umbringen könne, wie täglich neu nach Europa einwandern. Die einzige Möglichkeit, den „Rassenkrieg“ zu gewinnen, sei, „den Kopf der ‚Zionistisch besetzten Regierung‘ (ZOG) abzuschneiden“, also die Jüd*innen, die hinter dem „Großen Austausch“ und der „Umvolkung“ stecken, zu töten. ZOG ist in der Sprache rechter Terrorist*innen und Verschwörungstheoretiker ein Synonym für Regierungen, die von Juden beherrscht würden – wie etwa die amerikanische Regierung nach der Abwahl Trumps und die deutsche Regierung.

Der Attentäter versucht auch, durch Bezüge auf Belohnungssysteme in Computerspielen Nachahmer zu motivieren. Eine Regel des Spiels sei: „Töte so viele Anti-Weiße wie möglich, vorzugsweise Juden. Bonus: dabei nicht sterben“. „Highscore“-Tabellen weisen Belohnungen für „Erfolge“ aus. Die „Erfolge“ bestehen vorrangig in Morden an Juden, Muslimen, Christen, Kommunisten und Schwarzen. (12)

Der Schutz jüdischen Lebens

Es ist die Eingangstüre der Synagoge von Halle, die den Schüssen des Attentäters standhält und das geplante Blutbad verhindert. Die Gemeindemitglieder haben Glück im Unglück. Denn erst vor sechs Monaten wurde die Tür erneuert und mit moderner Sicherheitstechnik ausgestattet. Die dafür erforderlichen 13 000 Euro wurden von einer Spende bezahlt, die die Jewish Agency vermittelte. Im Staatsvertrag zwischen Sachsen-Anhalt und der Jüdischen Gemeinschaft vom 20. März 2006 heißt es: „Das Land gewährleistet den Schutz der jüdischen Gemeinschaft in Sachsen-Anhalt.“ 13 Jahre später fehlen immer noch Ausführungsbestimmungen, so dass – anders als in den anderen Bundesländern – keine Zuschüsse ausbezahlt wurden, die den Einbau verstärkter Türen und schusssicherer Fenster ermöglicht hätten. Bald wird den zu Jom Kippur versammelten Gemeindemitgliedern klar, dass sie doppelt Glück hatten. Hätte sich der Täter genauer informiert, hätte er gewusst, dass er auch durch die nicht gesicherten Fenster schießen und ein Massaker anrichten kann.
Am 27. August 2018, dem zweiten Abend der rechtsextremen Exzesse in Chemnitz, die weltweit für Schlagzeilen sorgen, dringt ein Dutzend vermummter Gewalttäter in das jüdische Restaurant von Uwe Dziuballa ein, zertrümmert die Einrichtung mit Steinen und Flaschen und greift ihn mit einem abgesägten Stahlrohr an. Dziuballa hört, wie ein Angreifer ruft: „Hau ab aus Deutschland, Du Judensau“. Dziuballa ruft die Polizei, die zehn Tage später kommt. Ein Jahr später stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ohne Angabe von Gründen ein.

Es ist nicht die erste rechte Attacke auf das jüdische Lokal und seinen Besitzer. Immer wieder wird die Fassade mit Hakenkreuzen beschmiert, Dziuballa mit Anrufen bedroht. Autoreifen werden zerstochen, ein Anrufer will das Lokal für eine Feier zu Hitlers Geburtstag reservieren, ein blutender Schweinekopf mit aufgemaltem Davidstern wird vor die Tür gelegt. Bis zum Sommer 2008 stellt Dziuballa 45 Strafanzeigen. Keine der Taten wird aufgeklärt. Dziuballa erfährt nicht einmal, dass die Ermittlungen eingestellt wurden. Daraufhin stellt er die Anzeigen ein. „Verschwendete Lebenszeit“, sagt er. (13)

Ähnliche Erfahrungen wie Dziuballa machen viele bedrohte und angegriffene Jüdinnen und Juden. Nur die wenigsten antisemitischen Straftaten werden überhaupt gemeldet. Eine unabhängige Expertenkommission Antisemitismus und die Europäische Grundrechteagentur kommen in Studien auf 24 Prozent – mit sinkender Tendenz. Dagegen verbergen 40 Prozent der Befragten in der Öffentlichkeit, dass sie jüdisch sind. (14)
Straftaten anzuzeigen ist für viele Opfer eine schwierige Entscheidung und eine Frage des Vertrauens. Wird der Anzeige nachgegangen? Wird der Täter bestraft oder durch Straflosigkeit bestärkt? Werde ich vor einer Rache des Täters oder seines Umfelds geschützt? Es liegt auf der Hand, dass in jüdischen Gemeinden zu diesen Fragen Erfahrungen ausgetauscht werden. Die Zahlen zeigen, dass diese häufig nicht positiv sind. Zugleich lassen Chatgruppen bei der Polizei, die nazistische und judenfeindliche Inhalte verbreiten oder ungeklärte Abfragen von Polizeicomputern weiter das Vertrauen in die Sicherheitsorgane bei betroffenen und besonders schutzbedürftigen Menschen schwinden.

Empfehlung:
Stella Leder: Meine Mutter, der Mann im Garten und die Rechten. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte, 2021.
Stella Leder, Nachfahrin jüdischer Überlebender des NS-Regimes, schildert ihre Erlebnisse im Land der Täter und ermöglicht so einen differenzierten Blick auf den historischen und aktuellen Antisemitismus in West und Ost.

Was ist Antisemitismus?

Der historische Antisemitismus, den Hitler und die NSDAP vorfanden und weiter radikalisierten, ist vor allem von folgenden Sichtweisen und Feindbildern gekennzeichnet:

Die „Rasse“ bestimme das Individuum. Nach diesem Grundsatz werden Jüd*innen nicht als Menschen mit eigenen Zielen, Einstellungen und Handlungsweisen gesehen, sondern als Angehörige einer „Rasse“, Religion oder Kultur, deren Denken, Fühlen und Handeln durch ihre Zugehörigkeit determiniert sei.

Die „rassischen Merkmale“ der Jüd*innen seien generell negativ. Jüd*innen seien aufgrund ihrer ererbten und unveränderbaren rassischen Merkmale – vulgo: aufgrund ihres „Blutes“ – habgierig, verschlagen und verlogen.

Jüd*innen seien eine “parasitäre Rasse”. Sie seien nicht gewillt, sich durch eigene Arbeit zu ernähren. Sie hätten sich vielmehr über die Welt verteilt und seien als Parasiten in die Völker eingedrungen, um diese zu zersetzen, zu beherrschen und auf ihre Kosten Reichtümer anzuhäufen.

„Die Juden“ seien eine Gefahr, die bekämpft und beseitigt werden müsse. Durch die angehäuften Reichtümer, die Präsenz in vielen Ländern und durch seine Heimtücke gelinge es dem „internationalen Finanzjudentum“, im Hintergrund die Fäden zu ziehen, heimlich Regierungen und Finanzströme zu kontrollieren, Zwietracht zu säen, Kriege auszulösen, die nationale Identität und Kultur zu zerstören und die Völker ins Unglück zu stürzen.

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„Ich bereue nichts“

Demonstratives Bekenntnis zum Nationalsozialismus und dessen Verbrechen zum Todestag des „Führer“-Stellvertreters Rudolf Hess

Diese Stereotype des historischen und nationalsozialistischen Antisemitismus erweisen sich vielfach als immun gegen gegenteilige Erfahrungen und Argumente. Sie überdauern – wenn auch oft in verbal weichgespülter Form oder mit der „man wird ja wohl mal sagen dürfen“ Attitüde – den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und das Wissen um den Holocaust. (15)

Zum historischen Antisemitismus kommt nach 1945 der sekundäre Antisemitismus. Sekundärer Antisemitismus ist mit dem Bestreben verbunden, den Holocaust zu relativieren und zu leugnen, den Jüd*innen eine Mitschuld an ihrer Verfolgung und Ermordung zu geben oder die Kriegspolitik der Alliierten mit den Verbrechen der Deutschen aufzurechnen. Er mündet meist in die Forderung, einen „Schlussstrich“ unter die Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu ziehen. Häufig wird auch behauptet, die Juden und der Staat Israel nutzen den Holocaust, um die Deutschen zu erpressen und ihres Nationalstolzes zu berauben. Häufig werden auch unter dem Deckmantel der „Israelkritik“ antisemitische Stereotype wiederbelebt und auch der Massenmord an den europäischen Juden relativiert. (16)

Wie verbreitet der sekundäre Antisemitismus ist, belegen einige Umfragen, auf die die Bundeszentrale für politische Bildung verweist.

Zwei vor wenigen Jahren unternommene Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen (52 oder 54 Prozent) der Aussage zustimmt, ‚die Juden‘ nutzten die Erinnerung an den Holocaust für ihre eigenen Zwecke aus. Auch etwa 20 Prozent der Studentinnen und Studenten in Deutschland glauben einer Umfrage zufolge: Die Juden verstehen es ganz gut, das schlechte Gewissen der Deutschen auszunutzen. (17)

Die verbreitete Schuldumkehr hat der isralische Arzt Zvi Rex mit folgenden Worten zugespitzt (18):

Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nicht verzeihen.

Schändungen und Anschläge in Hessen

Die allgemeine Entwicklung spiegelt sich in den Vorgängen in Hessen. Die Chronik weist seit 1945 Friedhofschändungen, Nazi-Schmierereien, Angriffe auf Erinnerungsorte, massive Drohungen gegen und Angriffe auf Menschen sowie einen Mord an einer Holocaust-Überlebenden aus. Antisemitische Schändungen, Drohungen und Angriffe ereignen sich flächendeckend in nahezu jeder Stadt und jedem Landkreis. Dennoch werden sie oft nicht wahrgenommen, als „unpolitische Einzeltaten“ abgetan und schnell wieder verdrängt und vergessen. Vielfach wird geleugnet, dass es auch in Hessen ein Antisemitismus-Problem gibt, das seit langem besteht und sich in den letzten Jahren nochmals verstärkt hat. Ganz anders ist die Wahrnehmung der Betroffenen, die immer wieder den mangelnden Rückhalt in Politik und Gesellschaft beklagen. So antwortet Daniel Neumann, Direktor der jüdischen Gemeinden in Hessen auf die Fragen (19):

Kann man sich als Jude in Hessen frei und unbefangen in der Öffentlichkeit bewegen?
Solange Sie nicht als Jude erkennbar sind, können Sie sich ungefährdet bewegen.

Und anderenfalls?
Anderenfalls müssen Sie mit dem Risiko leben, dass Sie angefeindet, beleidigt oder attackiert werden.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Werner Bergmann, Rainer Erb: Wie antisemitisch sind die Deutschen? Meinungsumfragen 1945 bis 1994. In: Wolfgang Benz (Hrsg.): Antisemitismus in Deutschland, München 1995, S. 52 ff. Der Sammelband von Wolfgang Benz gibt zugleich einen guten Überblick über den Antisemitismus in Deutschland.

Weiterhin: Samuel Salzborn: Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie. Nomos, Baden-Baden 2014

Einen lesenswerten Überblick über den Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland gibt Werner Bergmann im Historischen Lexikon Bayerns: https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Antisemitismus_(nach_1945)

(2) zu Displaced Persons in Hessen siehe: https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/drec/sn/edb/mode/catchwords/lemma/Displaced%2BPersons/current/0

(3) Lilly Maier, Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur. Die Möhlstraße – ein jüdisches Kapitel der Münchner Nachkriegsgeschichte. Bestellbar über: Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur München. https://lillymaier.wordpress.com/2018/04/18/die-mohlstrase/ siehe auch Steinke, Terror gegen Juden, S.111/112

(4) https://www.sueddeutsche.de/politik/antisemitismus-was-juden-in-deutschland-seit-kriegsende-erleiden-muessen-1.4635391

(5) https://report-antisemitism.de/rias-bund/

(6) Ronen Steinke, Terror gegen Juden – Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt, Berlin/München 2020

(7) Im Frühjahr 1960 veröffentlichte die Bundesregierung unter dem Titel „Die antisemitischen und nazistischen Vorfälle in der Zeit vom 25. Dezember 1959 bis zum 28. Januar 1960“ ein Weißbuch, das fast 700 Anschläge dokumentierte. In die Dokumentation wurden später Vorfälle bis Mitte Februar 1959 aufgenommen.

(8) Zu den Morden an Blanka Zmigrod und Karl-Hans Rohn siehe Kapitel 4.6, Todesopfer rechter Gewalt; zum Tod von Alfred Salomon siehe Todesopfer rechter Gewalt, Amadeu Antonio Stiftung, https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/

(9) Zum Anschlag in Düsseldorf-Wehrhahn siehe: Ronan Steinke, Terror gegen Juden, S.48/49

(10) zu den hier benannten Vorkommnissen siehe auch: https://www.sueddeutsche.de/politik/antisemitismus-was-juden-in-deutschland-seit-kriegsende-erleiden-muessen-1.4635391

(11) siehe dazu: Ronen Steinke S. 31 ff, S.99 ff und Süddeutsche Zeitung Anm. 4

(12) Matthias Quent: Globale Rechte formiert sich: Die Eiseskälte der völkischen Ideologie. Der Tagesspiegel, 24. März 2019

(13) Steinke 53 ff, 101 ff

(14) Zahlen nach Steinke S.101

(15) Beispiele für die Realitäts- und Lernverweigerung sind: Jüd*innen gelten in der Weimarer Republik weiter als unzuverlässig, unpatriotisch und sogar als „Verräter“, obwohl gerade Juden sich im Ersten Weltkrieg häufig freiwillig an die Front melden und immer wieder wegen ihrer Tapferkeit ausgezeichnet werden. Dem Bild des reichen geldgierigen Juden können auch die meist bitterarmen osteuropäischen Jüd*innen nichts anhaben. Um die besonderen Leistungen von Juden in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ranken sich Verschwörungstheorien, anstatt sie mit dem traditionell hohen Rang von Bildung in jüdischen Gemeinschaften in Bezug zu setzen.

(16) Zur aktuellen Diskussion um die Definition des Antisemitismus und die Unterscheidung berechtigter Kritik an der Politik der israelischen Regierung von der Instrumentalisierung antisemitischer Feindbilder siehe die Jerusalem-Erklärung: https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-final.ok_.pdf oder die Definition der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken IHRA:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.” https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitions-charters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus

(17) https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37962/sekundaerer-antisemitismus?p=1

(18) bpb, siehe ebenda

(19) Interview in der Frankfurter Rundschau, 29.7.2020, https://www.fr.de/rhein-main/hessen-direktor-der-juedischen-gemeinden-beklagt-mangelnden-rueckhalt-in-der-gesellschaft-90013570.html

 

Fotonachweise:

Kopfzeile einer von Gottlieb Binder herausgegebenen Flugschrift gegen den grassierenden Antisemitismus. Der Ausschnitt ist den Marburger Stadtschriften Bd. 65, S.163 entnommen.

Immer wieder werden jüdische Friedhöfe geschändet: Zacharias L., Freudental judenfriedhof geschändet 1, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2900821

Antisemitismus als zentraler Bestandteil rechter Gewalt: Verkohlte Reste der jüdischen Ausstellung „Für Juden Verboten“ in Berlin nach einem Brandanschlag, 1999: IMAGO / Christian Ditsch, https://www.imago-images.de/

Eingangstür der Synagoge Halle. Sie hielt dem Attentäter stand: IMAGO / Zoonar, https://www.imago-images.de/

„Ich bereue nichts“ – demonstratives Bekenntnis zum Nationalsozialismus und dessen Verbrechen zum Todestag des „Führer“-Stellvertreters Rudolf Hess: IMAGO / Christian Ditsch, https://www.imago-images.de/