Rechte Hetze und Gewalt im Internet

Die Rechte hat früh die Chancen erkannt, die ihr das Internet bietet. Das weltweite Netz ist inzwischen der wichtigste Ort der Verbreitung rechter Parolen, Feindbilder, Verschwörungslügen und Vernichtungsfantasien. Immer wieder wird aus dem virtuell erzeugten und verstärkten Hass reale Gewalt, die sich auch in rechtsterroristischen Morden zeigt. Doch auch die Rolle der Internetgiganten ist mehr als fragwürdig.

Als das Internet ab 1990 an Bedeutung gewann, erkannten rechte Aktivist*innen rasch die Chancen, die sich ihnen boten. Die Rechte konnte in der Folge unterhalb der Schwelle öffentlicher Aufmerksamkeit ihre Präsenz im Netz massiv ausbauen.

Mehr zum Thema „Rechte Hetze und Gewalt im Internet“ findet sich bei:
Karolin Schwarz: Hasskrieger – der neue globale Rechtsextremismus
Amadeu Antonio Stiftung: Rechtsterroristische Online-Subkulturen. Analysen und Handlungsempfehlungen: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/02/Broschu%CC%88re-Rechtsterroristische-Online-Subkulturen_pdf.pdf

Unsere Ausführungen zu diesem Thema stützen sich weitgehend auf diese beiden Quellen.

Viele rechte Gruppen nutzten zunächst das Internet als Ort der internen Kommunikation und Vernetzung. Organisationen wie Blood&Honour konnten dadurch die Folgen von Verboten abfedern und ihre Strukturen aufrechterhalten. Nach und nach entdeckten rechte Gruppierungen und Neonazis die vielen Freiheiten, die ihnen das Netz, allein am Profit interessierte Provider sowie inkompetente und unterbesetzte Aufsichtsorgane boten. Holocaust-Leugner*innen etwa mussten nur in die USA ausweichen, in der die Holocaust-Leugnung kein Straftatbestand ist und konnten von dort aus unbehelligt ihre Thesen verbreiten. In Deutschland wurde zum Beispiel 2000 die Domain www.heil- hitler.de von der zentralen deutschen Registrierungsstelle Denic unbeanstandet registriert und erst nach Medienberichten wieder gelöscht. (1)

Es begann ein Hase-und-Igel-Spiel. Wurde ein rechter Account gelöscht, weil dort zur Gewalt aufgerufen, der Holocaust geleugnet, Adolf Hitler gehuldigt oder Anleitungen zum Bau von Bomben gegeben wurden, waren längst schon zwei neue Accounts eingerichtet. Der demokratische Staat erwies sich als hilflos.

„Den Feind entmenschlichen“ – das Drehbuch der Gewalt

Das Internet wird von der Rechten intensiv genutzt, um ihre Ansichten zu verbreiten und Anhänger*innen zu gewinnen. Auf einer Vielzahl von Kanälen werden rassistische, antisemitische und antifeministische Parolen verbreitet, werden Ängste, Wut und Hass geschürt. Der Tenor ist dabei stets gleich:

Ein erheblicher Teil ihrer Beiträge dient der ultimativen Bedrohungserzählung, die mal als ‚großer Austausch‘ oder ‚Bevölkerungsaustausch‘, mal als ‚Umvolkung‘ oder ‚Volkstod‘ oder ‚White genocide‘ (Genozid an Weißen) bezeichnet wird. (2)

Die Verschwörungslegende ist Teil eines Weltbildes, das von einer „natürlichen Ordnung“ ausgeht, die die Herrschaft der „überlegenen weißen Rasse“ über die „minderwertigen Rassen“, die patriarchalische Dominanz des Mannes über die Frau, eine autoritäre staatliche Ordnung und ein völkisches Verständnis von Führern und Geführten beinhaltet. Diese Ordnung sieht die Rechte durch ‚Masseneinwanderung‘, das Aufbegehren nicht-weißer Bevölkerungsgruppen, durch die Idee der Gleichheit und der gleichen Rechte der Menschen, durch Feminismus, Liberalismus, Vielfalt und Selbstbestimmung, generell durch die Demokratie gefährdet – wobei viele Rechte im Hintergrund jüdische Drahtzieher*innen vermuten, die die natürliche Ordnung und die Identität der Völker zersetzen, um die Weltherrschaft des „internationalen Judentums“ durchzusetzen.

Immer wieder wird hervorgehoben, dass die Bedrohung existentieller Art ist. Der Angriff eines zwar minderwertigen, aber zahlenmäßig weit überlegenen Feindes schaffe eine Notwehrsituation, die Lügen, Hass und Hetze, Mobbing, Drohungen und Einschüchterung, aber auch Brandanschläge, individuelle und terroristische Gewalt erfordere und rechtfertige.

Zugleich wird die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung systematisch gesenkt. Migrant*innen, Asylsuchende, Feminist*innen, Jüd*innen, politische Gegner*innen und Angehörige anderer missliebiger Gruppen werden zu „Parasiten“, „Schmarotzern“ und „Zecken“ erklärt, die man ohne Bedenken angreifen und wie Ungeziefer vernichten kann.

Ein Beispiel ist die Webseite „Daily Stormer“, die 2014 der Webseite „Total Fascism“ nachfolgte. Der Name „Daily Stormer“ ist natürlich eine Referenz an das nationalsozialistische Hetzblatt „Der Stürmer“ des verurteilten Kriegsverbrechers Julius Streicher. Der Seitenbetreiber Andrew Anglin und seine Autoren leugnen den Holocaust, befürworten einen Genozid an Jüd*innen und befeuern den Rassismus und Antifeminismus. Anglin gab 2017 ein Handbuch für seine Autoren heraus, in dem Anleitungen für publikumswirksame, also an weit verbreitete Vorurteile und Feindbilder anknüpfende Beleidigungen von Schwarzen Menschen, Latinx, Jüd*innen, Asiat*innen, Frauen und Schwulen enthalten sind. In einem bemerkenswerten Satz wird schließlich das Ziel der Beleidigungen zusammengefasst:

Es sollte den bewussten Plan geben, den Feind zu entmenschlichen, bis zu dem Punkt, an dem die Menschen bereit sind, über ihren Tod zu lachen. (3)

Eine Folge der Vernetzung der Rechten im Netz ist, dass neben fortbestehenden nationalistischen und völkischen Denk- und Agitationsmustern globale Begrifflichkeiten und Deutungsmuster an Bedeutung gewinnen. So wird zunehmend die „weiße Rasse“ den „nicht-weißen Rassen“ im globalen Kampf um Vorherrschaft gegenübergestellt. Die „Weißen“ werden auch als „Europäer“ bezeichnet, wobei Europäer sich auf die ursprüngliche Abstammung der Vorfahren bezieht und auch „Weiße“ in anderen Kontinenten einschließt.

Muster rechter Agitation im Netz

Rechte Agitation im Netz nimmt vielfach Themen auf, die vorurteilsbeladen und in weite gesellschaftliche Bereiche hinein anschlussfähig sind. Um Ressentiments in Feindbilder und Feindbilder wiederum in Gewaltbereitschaft zu verwandeln, bedient sich die Rechte im Netz einfacher, immer wiederkehrender, emotionalisierender und zuspitzender Stereotype.

Einen Spitzenplatz hat die Behauptung der „Islamisierung“ Deutschlands und Europas durch Zuwanderung bei gleichzeitig geringen Geburtenraten „deutscher Kinder“, die auf die Gebärverweigerung der Feminist*innen zurückzuführen sei. Die Identitäre Bewegung weitete das frauenfeindliche Ressentiment zu einem Angriff auf die „Gutmenschen“ aus: „Heute sind wir tolerant – morgen fremd im eigenen Land“. Dieser Satz wurde wiederum von Alexander Gauland im Wahlkampf der AfD aufgegriffen.

Besonders emotionalisierend und verbreitet in der rechten Agitation im Netz ist die Behauptung, mit Geflüchteten käme eine Welle der Verbrechen über Deutschland. Deshalb werden kriminelle Handlungen von Geflüchteten, besonders aber Gewalttaten gegen deutsche Frauen immer wieder zu Kampagnen gegen Geflüchtete insgesamt genutzt. Umgekehrt gelten Gewalttaten gegen geflüchtete Frauen als nicht erwähnenswert. Zugleich geben Gewalttaten, die von Geflüchteten ausgehen, rechten Agitator*innen die Möglichkeit, „Gutmenschen“, Flüchtlingshelfer*innen und Politiker*innen, die sich für eine humanitäre Flüchtlingspolitik einsetzen, als die eigentlich Schuldigen an den Verbrechen hinzustellen, da sie die kriminellen Ausländer*innen ins Land gelassen hätten.

Ein immer wiederkehrendes Stereotyp ist das Bild von den „Sozialschmarotzern“, die sich in die „soziale Hängematte“ legen. Diese Anschuldigung, die sich zunächst gegen Arbeitslose, Obdachlose und Bezieher staatlicher Fürsorgeleistungen richtete, wird zunehmend gegen Geflüchtete gewendet. Die Demagogie ist offensichtlich: einerseits wird Geflüchteten vorgeworfen, sie nähmen Deutschen die Arbeitsplätze weg. Andererseits: nehmen sie Deutschen nicht die Arbeitsplätze weg, weil sie nicht arbeiten dürfen, lautet der Vorwurf, sie seien „Sozialschmarotzer“.

Ein erheblicher Teil der rechten Beiträge im Netz dient dazu, den Nationalsozialismus zu rechtfertigen, den Holocaust zu relativieren und zu leugnen oder die „guten Seiten“ Adolf Hitlers und des „tausendjährigen Reiches“ hervorzuheben. Dabei wird immer wieder auch der Antisemitismus bedient, der sich als prinzipieller Judenhass zeigt oder sich als Kritik an der Politik des Staates Israel verkleidet. Vielfach taucht auch die Behauptung auf, „die Juden“ würden Auschwitz ausnutzen, um sich am Geld der Deutschen zu bereichern.

Neben diesen Standardthemen gibt es weitere Themen rechter Agitation, die rasch wechseln. Entscheidend sind dabei das Erregungspotential und die Anschlussfähigkeit an bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die „Mitte“. Solche Themen können die EU-Bürokratie und der Euro, geschlechtergerechte Sprache, Maßnahmen gegen die Verbreitung des Corona-Virus oder Maßnahmen zum Klima- und Artenschutz sein, die als „Umweltdiktatur“ diffamiert werden. Ein besonderes Feindbild ist Greta Thunberg, deren Behinderung hämisch ausgeschlachtet und zum „Argument“ gegen die Fridays for Future Bewegung wird. So bezeichnete sie der damalige AfD Landesvorsitzende in Brandenburg, Andreas Kalbitz, als „zopfgesichtiges Mondgesicht-Mädchen“ (4); ein amerikanischer Rassist orakelte während ihrer Segelfahrt über den Atlantik: „Schreckliche Segelunfälle geschehen im August“.

Ein wichtiges Ziel rechter Agitation im Netz ist die Diskursverschiebung, also der Versuch, die Grenzen des Sagbaren nach rechts zu verschieben und dadurch vorher extreme Positionen als „normal“ erscheinen zu lassen. Ein Mittel dabei ist der ständige Tabubruch und die Provokation, durch die ein respektvolles Zusammenleben, die Achtung der Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit abgewertet und die Fundamente der Demokratie unterspült werden sollen.

Der gezielte Tabubruch geschieht häufig in Form „vergifteter Witze“ (irony poisoning), in denen rassistische, antifeministische oder antisemitische Klischees und Feindbilder aktiviert und zu Gewalt- und Vernichtungsfantasien zugespitzt werden. Solche vergifteten Witze wurden vielfach auch bei rechtsextremistischen Chats von Polizist*innen verbreitet. Diese „vergifteten Witze“ radikalisieren einerseits einen bestimmten Personenkreis und bieten andererseits eine Rückzugslinie für den Fall an, dass der Tabubruch (noch) zu weit ging und eine massive Gegenreaktion oder Strafanzeigen auslöst. Dann kann man immer noch behaupten, es habe sich nur um einen „Scherz“ gehandelt, den die humorlosen Vertreter*innen der „political correctness“ und die „Gutmenschen“ nicht verstehen wollen.

Auf Provokation setzen auch rechte Online-Shops. Dort können etwa Westen mit der Aufschrift „Abschiebehelfer“ oder Judensterne mit dem Aufdruck „Dieselfahrer“ erworben werden. Sogar eine Fotomontage mit Angela Merkels Kopf auf der pornografischen Darstellung einer nackten Frau mit gespreizten Beinen wird dort angeboten. Hier lautet die Aufschrift: „Mutti lässt jeden rein.“ (5)

Durchgängig ist die Selbstinszenierung der Rechten als „Opfer“. Obwohl sie selbst immer wieder versuchen, andere Menschen durch Drohungen und Gewalt zum Schweigen zu bringen, beklagen sie, dass ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Dabei folgt auf den Satz „Man wird ja wohl noch sagen dürfen“ regelmäßig das, was man angeblich nicht sagen darf. Wenn Rechten bei rassistischer oder antisemitischer Hetze widersprochen wird, nennen sie dies „Sprechverbot“. Manche setzen sich mit Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gleich, wenn von ihnen erwartet wird, sich an Regeln zum Infektionsschutz zu halten.

Vergiftete Witze, Trolle und Fakes – der Weg zur Gewalt

Immer wieder nutzen Rechte das Internet, um Menschen, die sie als Feinde betrachten, zu diffamieren und zu bedrohen. Die Drohungen richten sich vor allem gegen Migrant*innen und Geflüchtete, politische Gegner*innen, kritische Journalist*innen, Jüd*innen, Feminist*innen, Homosexuelle, nichtbinäre und trans Menschen, Menschen mit Behinderung, kranke und obdachlose Menschen. Die Angriffe können gegen ganze Gruppen gerichtet sein oder gegen Menschen, die diesen Gruppen angehören. Sie können sich auch gegen Menschen richten, die rechter Agitation widersprechen und deshalb als „Feind“ markiert wurden.

Die Kampagne beginnt mit der Markierung des Ziels auf rechten oder anderen Plattformen und Kanälen. Die Markierung beinhaltet den Vorwurf, der der betroffenen Person gemacht wird, oft auch ein Foto, die Wohnadresse, die e-Mail-Adresse und weitere Internet Accounts. Sie wird in den Kanälen rechter Extremist*innen oder auf Plattformen wie Facebook oder Twitter vorgenommen.

Der Markierung folgen Beleidigungen und Drohungen, die möglichst emotional vorgebracht werden und Integrität, Ansehen und menschliche Würde der angegriffenen Person beschädigen sollen. Der verbalen Enthemmung folgen häufig kaum versteckte Aufforderungen zur Gewalt. Eine typische Formulierung ist: „Natürlich werden wir hier nicht zu Gewalt aufrufen. Warum auch? Es muss schließlich jeder selbst wissen, was er macht“.

Rechte Aktivist*innen nutzen verschiedene Wege, um diese Angriffe zu platzieren und ihre Wirkung zu verstärken. Zuerst können die Angreifenden eigene Profile, Verbindungen in die Szene und rechte Plattformen und Dienste nutzen. Sie können die Angriffe im Netz mit provokativen Aktionen außerhalb des Netzes verbinden, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten. Wirkungsvoll sind auch sogenannte „Anheizer“, die über Kanäle mit großen Reichweiten verfügen und diese zur Unterstützung einer Attacke nutzen.

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Hass im Netz

Eine zentrale Rolle im Konzept der Rechten spielen „Trolle“, die im Netz mobben und Hass verbreiten. Oft legen Trolle eine größere Zahl von Accounts unter unterschiedlichen Nutzernamen an können so unter dem Namen scheinbar verschiedener Personen ihr Gift potenziert versprühen. Schließen sich mehrere Trolle zusammen, entstehen Trollnetzwerke und schließlich eine „Troll-Armee“, die – auch unter Nutzung von technischen Hilfen – in kürzester Zeit Hunderte und Tausende von Kommentaren absetzen, sich dabei immer wieder auf die Beiträge der anderen Trolle beziehen und deren Aussagen emotionalisieren und zuspitzen kann. Dadurch können „Troll-Armeen“ den Eindruck erwecken, für die „schweigende Mehrheit“ der Bevölkerung zu sprechen. Zugleich können sie zumindest kurzzeitig bei Twitter und anderen Diensten Spitzenplätze auf deren Seiten erobern und damit die Aufmerksamkeit einer riesigen Nutzer*innenschar auf sich ziehen. Die Angegriffenen wiederum sollen sich einer Vielzahl hasstriefender Kommentare und einer scheinbaren Übermacht der Angreifer*innen ausgesetzt sehen, der gegenüber sie sich wehrlos fühlen.

Ein besonders wirksames Mittel, um die öffentliche Erregung und damit die Aufmerksamkeit für und Zustimmung zur eigenen Kampagne zu steigern, sind vorsätzliche und gezielt eingesetzte Falschmeldungen, die die Angegriffenen beschädigen und die öffentliche Empörung gegen sie lenken. So wurde immer wieder demokratischen Politiker*innen unterstellt, sich auf die Seite von Geflüchteten zu stellen, die deutsche Frauen vergewaltigt und getötet haben. Diese Anschuldigungen wurden mit frei erfundenen Zitaten untermauert. Auch wenn sich die angeblichen Zitate bald als Fake erweisen, sind sie in der Welt und beschädigen die Betroffenen dauerhaft.

Noch weiter geht die komplette Fälschung von Profilen unliebsamer Personen. Hier wird auf Plattformen wie facebook ein gefälschter, meist mit Foto versehener Account der Person angelegt, die bloßgestellt werden soll. Wirkt das so entstandene Profil echt, kann es beliebig manipuliert werden. Die Fälscher*innen können der betroffenen Person Aussagen andichten, die die Empörung und Wut gegen sie auf die Spitze treiben; und umgekehrt ihr Aussagen oder Aktivitäten zuschreiben, die sie in ihrem Umfeld zur Unperson machen und ihr jegliche Solidarität entziehen.

Präzedenzfall einer Persönlichkeitsvernichtung im Internet ist das „Gamergate“ in den USA. 2014 hatte der Ex-Freund der Spielentwicklerin Zoe Quinn aus gekränkter Eitelkeit im Netz einen Rachefeldzug gestartet und die Behauptung verbreitet, seine ehemalige Freundin habe mit einem Spielejournalisten im Tausch gegen die positive Rezension eines Spieles Sex gehabt. Die durch Trolle verstärkte Fake-Nachricht verbreitete sich rasend schnell. Sie wurde von „Männerrechtlern“ und rechten Frauenhassern aufgegriffen und auf alle verfügbaren Internet-Plattformen getragen. Die Kampagne führte über Jahre zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen gegen Zoe Quinn und ihre Familie. Mit dem Shitstorm gegen Zoe Quinn wurde zugleich eine Welle des Hasses losgetreten, der sich gegen völlig unbeteiligte Frauen wendete, die ebenfalls beschuldigt wurden, durch sexuelle Gefälligkeiten ihre männlichen Rivalen ausgestochen zu haben.

 

Dieses Muster wird von der Rechten immer wieder aufgegriffen, wenn sie im digitalen Raum über politische Gegner*innen, unbequeme Journalist*innen oder Kulturschaffende herfällt. Der Ablauf und die Konsequenzen einer solchen Hetzkampagne im Netz und die dahinterstehende Regie zeigen sich beispielhaft an der Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
Zuerst stellen Neonazis ein manipulativ zusammengeschnittenes Video ins Netz, das den Eindruck erweckt, Lübcke wolle die Deutschen aus Deutschland vertreiben und durch Flüchtlinge ersetzen. Dann setzt der „Shitstorm“ auf allen rechten Kanälen ein, der sich schnell ausweitet und immer wieder neu befeuert wird. Teil des „Shitstorms“ sind kaum verhüllte Gewaltaufrufe: „Könnte da jemand etwas unternehmen?“ wird gefragt. Schließlich findet sich dieser Jemand in Gestalt des Mörders Stephan Ernst.

Mehr zum Mord an Walter Lübcke siehe: Der Mord an Walter Lübcke

Dieser Ablauf gibt der Rechten die Möglichkeit unterschiedlicher Reaktionen, die dennoch zusammenpassen. Im Bundestag verwahrt sich der Fraktionsvorsitzende der AfD, Alexander Gauland, gegen den Vorwurf, die AfD hätte als geistiger Brandstifter zu einem Klima beigetragen, in dem Gewalt und Mord gedeihen. Vielmehr würden die „Altparteien“ die Tat, mit der die AfD nichts zu tun habe, nutzen, um gegen die AfD zu hetzen. Sein Fraktionskollege, der AfD-Abgeordnete Martin Hohmann dreht die Schuldzuweisung demagogisch um: Hätte es den von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu verantwortenden „Massenzustrom an Migranten nicht gegeben, würde Walter Lübcke noch leben“. (6) Derweil wird im Netz anonym der Mord an Walter Lübcke gefeiert und zu weiteren Gewalttaten aufgerufen.

Mit der Bedrohung allein gelassen

Menschen, die ins Fadenkreuz rechter Diffamierungen, Beleidigungen, Drohungen geraten sind, beklagen immer wieder, dass sie damit von Politik, Polizei und Justiz alleine gelassen werden.

In Thüringen wird der Jugendsekretär der IG Metall von Rechten mit Steckbriefen ausgeschrieben. Die Polizei in Gera weigert sich, eine Anzeige des Bedrohten entgegenzunehmen. Die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die Kabarettistin Idil Baydar und die Politikerin Janine Wissler wurden wie eine Reihe anderer Frauen jahrelang mit Schreiben bedroht, die die Unterschrift NSU 2.0 trugen. Die Polizei konnte lange Zeit nicht den Urheber ermitteln und auch nicht klären, wer die Adressen von Polizeicomputern abgerufen hat.

Die ehemalige Bundesministerin Renate Künast wurde bereits mehrmals zur Zielscheibe rechter Kampagnen, die sich auch einer Emotionalisierung durch gefälschte, der ehemaligen Ministerin zugeschriebenen Aussagen bediente. 2020 beginnt eine weitere Kampagne gegen die Abgeordnete, die in mehreren Beiträgen als „Drecks Fotze”, „Schlampe”, „Sondermüll”, „Drecksau” oder „Geisteskranke” beleidigt wird. Bei einer Klage der Abgeordneten entscheidet das Berliner Landgericht in einem später aufgehobenen Urteil, dass diese Beleidigungen durch die Meinungsfreiheit gedeckt seien und Künast sie hinnehmen müsse – als ob eine organisierte, durch Trolle verstärkte Hetzkampagne eine „Meinung“ sei, die unter den Schutz des Grundgesetzes falle. Natürlich müssen rechte Hasskrieger*innen Entscheidungen dieser Art als Freibrief und Einladung zu weiteren Hetzkampagnen verstehen.

Im Netz kursieren immer wieder „Feindeslisten“ und „Todeslisten“, mit denen rechte Gruppen ihre Gegner*innen markieren und den Tag X vorbereiten. Diese Listen wurden durch Hacker*innen erbeutet oder – wie etwa die Webseite „Judas Watch“ – von Rechtsextremisten zusammengestellt. Bekannt wird die Existenz der Listen nicht durch Sicherheitsorgane, sondern durch Presseberichte. Die Menschen, die sich auf den öffentlich nicht zugänglichen Listen befinden, werden teilweise gar nicht und teilweise mit dem beschönigenden Hinweis informiert, dass für sie keine akute Bedrohung bestehe. Derweil wurde längst ein Teil dieser angeblich nicht bedrohten Menschen bedroht und angegriffen.

Beleidigt und bedroht werden nicht nur Menschen mit einem bestimmten Bekanntheitsgrad, sondern auch viele Menschen an der gesellschaftlichen Basis, die sich gegen die Rechten gestellt haben, die sich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder einer der den Rechten verhassten Gruppen oder Ethnien angehören. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, wie hoch die Zahl der Beleidigungen und Drohungen durch rechte Aktivist*innen im Netz ist und wie viele der Bedrohten sich an die Polizei und die Öffentlichkeit wenden. Viele fürchten, dann erst recht zur Zielscheibe zu werden. Viele zweifeln auch daran, dass sie effektiv geschützt werden und haben längst das Vertrauen in die Sicherheitsorgane verloren.

Ein Merkmal einer Bedrohung aus dem Netz ist, dass sie nicht greifbar ist. Betroffene wissen oft nicht, von wem sie ausgeht, wie ernst sie zu nehmen ist, wie viele tatsächlich hinter den Attacken stehen, ob der „Shitstorm“ bald abflaut oder ob er sich noch steigern wird. Unklar ist auch, ob die Drohung „nur“ der Einschüchterung und Abschreckung dient oder gewaltsame Attacken bis hin zum Mord folgen werden. Die Wirkung der Drohungen ist nochmals größer, wenn die Betroffenen erkennen müssen, dass ihnen nicht geglaubt wird oder dass die Bedrohung heruntergespielt wird. Ist es den Rechten erst einmal gelungen, Angst zu verbreiten und zugleich die Angegriffenen zu isolieren und von einer breiten gesellschaftlichen Solidarität abzuschneiden, haben sie ihre Ziele erreicht.

Die rechte Online Subkultur

Es ist der Rechten in den beiden letzten Jahrzehnten gelungen, eine identitätsstiftende Online-Subkultur auszubilden. Diese Online-Subkultur erleichtert das gegenseitige Erkennen, entwickelt eine gemeinsame Sprache über Staatsgrenzen hinaus, schafft das Gefühl einer Gemeinschaft, definiert gemeinsame Feinde, bietet Zugänge für Interessierte und radikalisiert zugleich Aktive. Als gemeinsame Sprache hat sich Englisch etabliert.

Ein wichtiges Element der Zugehörigkeit sind gemeinsam verwendete Codes. Der meistverwendete Zahlencode ist die Kombination 14 und 88. Dabei steht die 14 für die „14 Worte“ des Neonazis David Lane: „We must secure the existence of our people and a future for white children.” („Wir müssen die Existenz unseres Volkes und eine Zukunft für weiße Kinder sichern.“) Die 88 bezieht sich auf den 8. Buchstaben im Alphabet und steht für „Heil Hitler”. Die häufig verwendete 18 bedeutet Adolf Hitler. Die 8 taucht in den verschiedensten Kontexten als rechter Code auf.

Neben Zahlencodes gibt es diverse Buchstabencodes. Einer davon ist DOTR. Dieser Code bezieht sich auf den „Day of the rope“ in den Turner Diaries, an dem ein rechter Terrorist beginnt, „Verräter“ zu lynchen. DOTR steht insofern für den Beginn eines Rachefeldzugs am Tag X, für den Rechte Waffen horten und Todeslisten anlegen.
„Take me to the Church“ nimmt auf den Massenmord von Christchurch Bezug und ist als Aufforderung zu verstehen, es dem Attentäter gleichzutun. „Kike“ ist ein abfälliger Begriff für Jüd*innen, „Goy“ dagegen ist die Selbstbezeichnung von Rechten, die sich als Opfer der Jüd*innen darstellen. „Going ER“ ist die Aufforderung, es dem Incel-Terroristen Elliot Rodgers gleichzutun und Frauen zu ermorden. Das Symbol des Bowlcat ist eine Huldigung an den Mörder von Charleston. (7)

Rechte Aktivist*innen verstehen es oft hervorragend, sich der Möglichkeiten zu bedienen, die das Netz bietet. Eine solche Möglichkeit ist die Nutzung von Memes. Memes sind meist witzig gestaltete, beliebte und weit verbreitete Bilder, kleine Videos oder Animationen, die von allen, die sie erreichen, verändert und weitergegeben werden können. Dies kann ein harmloser Spaß mit vielen kreativen Ideen sein. Umgekehrt kann die Bearbeitung von Memes auch Hass und Hetze transportieren. So kann zum Beispiel die ursprünglich ins Netz gestellte Animation eines Menschen so verändert werden, dass er als Jude erscheint und alle antijüdischen Vorurteile und Zerrbilder aktiviert. Beliebt unter Rechten ist die Anreicherung der Animationen mit Hakenkreuzen, SS-Runen oder den Abzeichen der SS-Totenkopfdivisionen. Aus Animationen von Trump Anhänger*innen werden nach der „gestohlenen Wahl“ Terrorist*innen mit Gasmaske und Maschinengewehr.

Aus dem Film Matrix sind die Begrifflichkeiten „blue pills“ und „red pills“ übernommen. „Blue-pilled“ ist eine Person, die an die „Lügen“ der Demokrat*innen, Liberalen, Sozialist*innen, Feminist*innen, Jüd*innen und „Gutmenschen“ glaubt und in einer manipulierten Scheinwelt lebt. „Redpilled“ ist dagegen, wer das Lügengebäude durchschaut hat, die Wahrheit erkennt und sich den Rechten anschließt. Von einigen rechten Attentätern wird dies als Erweckungserlebnis beschrieben, das sie zu ihren Gewalttaten inspiriert hat.

„High-Score“ Morde – rechter Terrorismus im Netz

Im letzten Jahrzehnt hat die Zahl rechter Terroranschläge sprunghaft zugenommen. Dafür stehen die Attentate von Oslo und Utoya, Isla Vista, Trollhättan, München, Charlottesville, Actec, Toronto, Pittsburgh, Christchurch, Poway, El Paso, Halle und Hanau mit insgesamt 200 Toten und vielen hundert Verletzten. Gemeinsam ist den Anschlägen, dass sie Symbolcharakter haben, unter den betroffenen Gruppen Angst und Schrecken verbreiten und zugleich wirkmächtige Bilder produzieren sollen, die um die Welt gehen und Nachahmer rekrutieren.

Eine Chronik rechtsterroristischer Anschläge seit 2011 findet sich unter: Die Strategie der Gewalt

Die Täter sind oft nicht in klassisch organisierte Strukturen und terroristische Gruppierungen eingebunden. Sie planen ihre Taten alleine und führen sie auch alleine aus. Daraus wurde häufig das Bild des „einsamen Wolfes“ gezeichnet, der zugleich psychisch krank ist.

Tatsächlich ist das Bild des „Einzeltäters“ irreführend. Die Attentäter bilden zumindest im Netz eine Gemeinschaft. Gemeinsam ist den Attentätern ihr Weltbild, das durch Rassismus, Antisemitismus, Antifeminismus und Sozialdarwinismus geprägt ist. Gemeinsam sehen sich die Täter in einem Überlebenskampf, der zur Notwehr berechtigt und die Anschläge zu einem Akt der Selbstverteidigung macht.

Die Täter teilen nicht nur das gleiche Weltbild. Auch ihre Radikalisierung verläuft nach gleichen Mustern. Wesentlicher Teil dieser Radikalisierungsprozesse sind rechte Subkulturen im Netz, die die späteren Täter ansprechen und mit Gleichgesinnten zusammenführen, mit denen sie ihren Hass teilen und darin bestätigt werden. Gemeinsam ist auch der Prozess der Dehumanisierung, durch den Feindbilder fixiert, einzelne Menschen und Menschengruppen als Ziele markiert und Tötungshemmungen abgebaut werden. Dabei geht das terroristische Selbstverständnis weit über individuelle Morde hinaus. Der Mörder von Hanau spricht beispielsweise von Ethnien, „deren Existenz an sich ein grundsätzlicher Fehler ist“ und die deshalb „komplett vernichtet werden“ müssen. (8)

Alle Attentäter sind Teil einer rechtsterroristische Online-Subkultur. Diese Subkultur verleiht Attentätern einen Kultstatus und macht sie zu Helden. Jeder, der dieser Subkultur angehört, weiß auch, wie man zum gefeierten und verehrten Helden wird. Man muss dazu die „Scorerliste“ anführen, also möglichst viele Menschen töten.
Zum Heldenstatus gehört auch die Inszenierung der Morde. Fast alle rechtsterroristischen Mörder im letzten Jahrzehnt haben ihre Tat im Netz angekündigt und mit Pamphleten begründet, die sie selbst großspurig „Manifeste“ nennen. Diese Pamphlete kursieren vor und nach den Taten im Netz. Die Attentate selbst werden mit Helmkamera aufgenommen und – vorzugsweise auf vielgenutzten Plattformen – während der Tat live in das Netz übertragen. Bis die Betreiber der Plattformen die Übertragung bemerken, bewerten und abschalten, sind meist genügend Zeit vergangen, um tausende Kopien zu erstellen, die nicht mehr rückholbar sind, sondern immer wieder neu im Netz verbreitet werden.

Das Attentat von Christchurch wurde auf Facebook live übertragen. Als die Übertragung von Facebook gestoppt wurde, waren bereits unzählige Kopien gemacht, die in der weltweiten rechten Szene verbreitet wurden. Allein in den ersten 24 Stunden nach der Tat gab es 1,5 Millionen Versuche, Kopien des Mordvideos bei Facebook wieder hochzuladen. Dies wurde durch eine automatisierte Erkennung 1,2 Millionen mal von Facebook verhindert. Die restlichen 300 000 Kopien konnten zumindest zeitweise im Netz kursieren und immer wieder neu kopiert und unter neuen Namen auf den unterschiedlichsten Plattformen verbreitet werden. (9)

Kommt der Attentäter bei dem Anschlag um oder begeht er Suizid, gilt er im der rechtsterroristischen Online-Szene als Märtyrer. Überlebt er, geht die Inszenierung weiter. Der Mörder Anders Breivik etwa hat sich bei seiner Festnahme mit dem Hitler-Gruß medienwirksam in Szene gesetzt und den Prozess als Bühne zur Propagierung seiner Ansichten und seines „Manifests“ genutzt.

Die Live-Videos sind nicht nur eine Attraktion in der rechtsterroristischen Szene, sondern werden auch vehement diskutiert. Was war gut bei der Attacke, was kann man besser machen und wie kann man den „High-Score“ übertreffen und noch mehr Menschen umbringen?

Die Glorifizierung der Täter erfolgt nicht nur durch die Verbreitung der Videos und der „Manifeste“, sondern auch auf anderen Wegen: auf allen möglichen Plattformen und Kanälen werden Memes, Bildkollagen oder Musikvideos veröffentlicht, die die Mörder als Helden verehren. In Online-Shops werden Fanartikel angeboten, die das Profil der Attentäter oder einen Code wiedergeben, der für die Attentäter steht.

Mit der Enthemmung durch ein apokalyptisches Feindbild und die immer wieder beschworene Notwehrsituation wächst der Druck auf Teilnehmende rechtsterroristischer Chats und Foren, den Worten nun Taten folgen zu lassen und selbst zur Waffe zu greifen. Noch motivierender als der Gruppendruck ist möglicherweise die Aussicht, in den Tempel rechtsterroristischer Helden aufzusteigen und in sich in der „High-Score“ Liste zu verewigen.

Endlich aufwachen

Die Rechte hat früh die Chancen erkannt, die ihr das Internet bietet. Das weltweite Netz ist inzwischen der wichtigste Ort der Verbreitung rechter Parolen, Feindbilder, Verschwörungslügen und Vernichtungsfantasien. Immer wieder wird aus dem virtuell erzeugten und verstärkten Hass reale Gewalt, die sich auch in rechtsterroristischen Morden zeigt.

Diese Situation ist auch Folge der fatalen Unterschätzung der Aktivitäten der Rechten im Netz und der davon ausgehenden Gefahren in weiten Bereichen der Politik, der Sicherheitsorgane und der Justiz. So konnte die extreme Rechte ihr Weltbild verbreiten, Hass und Gewalt propagieren und zugleich Rückzugsräume schaffen, mit denen sie Maßnahmen und Verbote ins Leere laufen lassen kann. Auch rechte Populist*innen und Demokratieverächter*innen nutzten die Möglichkeiten, die ihnen das Netz bot, weitaus effektiver als demokratische Parteien und Bewegungen. So wurde die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA und die anhaltende Vergiftung der amerikanischen Demokratie ebenso möglich wie die Wahl des rechtsextremen Präsidenten Bolsonaro in Brasilien.

Die Versäumnisse sind zahlreich und gravierend. Insbesondere wurde versäumt, Hass und Hetze und Aufrufe zu Gewalt im Netz durch rechtliche Regelungen, Druck auf die Netzbetreiber, eine hinreichende personelle und technische Ausstattung der Sicherheitsbehörden, durch deren Sensibilisierung und die Entwicklung entsprechender Kompetenzen zu unterbinden oder zumindest zu erschweren. Auch eine umfassende Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Gefahren ist nicht erfolgt. Opfern von Drohungen und Gewalt wurden vielfach die Solidarität verweigert.

Der als „Kanaken-Landrat“ diffamierte und bedrohte ehemalige Landrat des Main-Kinzig-Kreises Erich Pipa fand in seiner Abschiedsrede Worte, die aufrütteln sollten. Er sprach von der „Kapitulation des Staates“, der „für solche Angriffe nicht gewappnet“ sei. Die Justiz lasse zudem ausfindig gemachte Täter mit einem Strafmaß davonkommen, das „ein Witz sei“. (10)

Staatliches Handeln ist wichtig, wird aber nicht ausreichen. Unumgänglich ist auch eine öffentliche Diskussion über die Rolle der Mediengiganten im Netz, die entgegen ihren öffentlichen Beteuerungen häufig als Brandbeschleuniger wirken.

So hat eine Untersuchung der Wissenschaftler Carlo Schwarz und Carsten Müller an der Universität Warwick auf der Basis von einer Million Datensätzen gezeigt, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen geflüchtetenfeindlichen Kommentaren auf Facebook und gewalttätigen Übergriffen gegen Geflüchtete besteht: je mehr Kommentare, umso mehr Übergriffe. Der Zusammenhang besteht auch umgekehrt: bei Ausfällen des Internets in bestimmten Regionen und geringeren Verweildauern sinkt die Zahl der Gewalttaten gegen Geflüchtete während dieser Zeit signifikant. (11)

2021 hat ein Forscher*innenteam vom Zentrum gegen digitale Hassbotschaften (CCDH) in Washington 714 antisemitische Einträge auf den großen Internet Plattformen Facebook, Twitter, TikTok, Instagram und Youtube identifiziert und den Betreibern die Einträge gemeldet. Es handelte sich größtenteils um Hassbotschaften, die nicht interpretationsfähig, sondern eindeutig antisemitisch waren. Alle Juden hätten im Holocaust sterben sollen, gibt der Leiter der Studie zum Inhalt vieler Kommentare wieder. „Hitler wurde da verherrlicht und Juden als Ungeziefer und Krankheit bezeichnet.” Nach zwei Monaten überprüfte das Team, was mit den gemeldeten Kommentaren geschehen ist. Das Ergebnis: Die meisten Kommentare blieben im Netz und wurden insgesamt 7,3 Millionen mal aufgerufen. Gerade 16 Prozent wurden gelöscht.

Die ehemalige Facebook Mitarbeiterin Frances Haugen hat diese Vorwürfe vor dem amerikanischen Kongress erweitert. Hass und Gewalt seien bei Facebook kein Versehen und kein Ergebnis mangelnder Kontrolle, sondern Geschäftsmodell. Die konzerneigene Forschung habe ergeben, dass Hass und Wut sowie stark emotionalisierende und polarisierende Inhalte zu längeren Verweildauern der Nutzer*innen führen. Längere Nutzungszeiten erhöhen die Werbeeinnahmen und diese wiederum den Profit. Deshalb fördere der Facebook-Algorithmus die Präsentation von Hass und Gewalt. Haugen:

Wenn unsere Umgebung aus Informationen besteht, die polarisieren, die wütend machen, dann führt das zu Vertrauensverlust in unser Gegenüber. Diese Version von Facebook zerreißt unsere Gesellschaft und verursacht Gewalt in der Welt. (13)

Die großen Internet-Plattformen erreichen Milliarden Menschen. Sie stellen eine demokratisch nicht legitimierte und nicht kontrollierte Macht dar. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die Demokratie eine derart geballte, am Profit orientierte Macht, deren Geschäftsmodell Polarisierung und Hass ist, auf Dauer überstehen kann. Eine öffentliche Diskussion dazu ist überfällig und wahrscheinlich Voraussetzung für den Fortbestand der Demokratie.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen