Vom Umgang mit Wahrheit und Verantwortung

Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen

Mit den Frankfurter Auschwitz-Prozessen werden erstmals die Gräuel in den Vernichtungslagern einer breiteren Öffentlichkeit bewusst – soweit diese sich der historischen Wahrheit stellen will. Der Umgang mit den NS-Verbrechen ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Hier die wichtigsten Etappen und Ereignisse.

Die Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse und die Nachfolgeprozesse

Vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 finden vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg die Hauptkriegsverbrecherprozesse statt, denen bis 1949 zwölf weitere Prozesse in der amerikanischen Besatzungszone folgen. Beim Hauptkriegsverbrecherprozess ist die Führungsriege der NSDAP und der Wehrmacht angeklagt, soweit diese den Krieg überlebt und sich nicht durch Suizid der Verantwortung entzogen hat. Angeklagt sind: Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Ernst Kaltenbrunner, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick, Julius Streicher, Walter Funk, Hjalmar Schacht, Erich Raeder, Baldur von Schirach und Fritz Sauckel.

Anklagepunkte sind:
– Kriegsverbrechen
– Verbrechen gegen die Menschlichkeit
– Verbrechen gegen den Frieden

Unter Kriegsverbrechen werden Delikte verstanden, die bereits in den Haager Abkommen vor dem Ersten Weltkrieg definiert wurden, wie die Tötung oder Misshandlung von Kriegsgefangenen, die Hinrichtung von Geiseln oder die Verschleppung zur Zwangsarbeit. Unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen vor allem die Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden und die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, also Verbrechen, die in allen zivilisierten Staaten verfolgt werden. Unter Verbrechen gegen den Frieden wird der Angriffskrieg verstanden. Beim Hauptkriegsverbrecherprozess wird bei 24 Angeklagten zwölf Mal die Todesstrafe und drei Mal lebenslange Haft verhängt.

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Die Anklagebank beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess

Göring, Heß, von Ribbentrop, Keitel (vorne), Dönitz, Raeder, von Schirach und Sauckel (dahinter)

Die Nürnberger Prozesse sind ein Meilenstein in der Rechtsgeschichte. Mit ihnen werden grundlegende neue Prinzipien festgelegt und angewandt:

  • Jede Person, die ein völkerrechtliches Verbrechen begeht oder verantwortet, ist hierfür strafrechtlich verantwortlich, auch wenn die Tat nach dem nationalen Recht nicht strafbar ist. Dies gilt auch für Regierungen.
  • Handeln auf Befehl befreit nicht von völkerrechtlicher Verantwortlichkeit, sofern der Täter auch anders hätte handeln können.

Ebenso bedeutsam wie die Hauptkriegsverbrecherprozesse sind die 12 Nachfolgeprozesse von 1946 bis 1949. Die Nachfolgeprozesse richten sich vor allem gegen Mitglieder der Funktionseliten des NS-Staates, gegen dessen Profiteure und gegen NS-Mörder, denen besonders abscheuliche Taten vorgeworfen werden. Zu den Angeklagten bei den Nachfolgeprozessen gehören u.a.

  • Ärzte, denen Versuche an Menschen vorgeworfen werden
  • hohe Militärs wie Mitglieder des Oberkommandos der Wehrmacht, die beschuldigt werden, Kriegsverbrechen angeordnet zu haben
  • die Industriellen Flick, Krupp und der IG-Farben Konzern, denen vorgeworfen wird, sich an der Sklavenarbeit von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern bereichert und sich an der „Vernichtung durch Arbeit“ beteiligt zu haben
  • Mitglieder der Einsatzgruppen sowie Angehörige der SS und der Polizei, die an den Massenmorden in den besetzten Gebieten und den Vernichtungslagern beteiligt waren
  • hochrangige Angehörige des Auswärtigen Amtes, des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS und des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes des SS, denen die Unterstützung des Holocaust, der Zwangsarbeit und der gezielten Ermordung und Dezimierung der osteuropäischen Bevölkerung vorgeworfen wird.

In den Nachfolgeprozessen wird gegen 25 Angeklagte die Todesstrafe verhängt. Die Urteile betreffen vor allem Ärzte, die Menschenversuche durchgeführt haben und Angehörige der Einsatztruppen, die Massenmorde an der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten begangen haben. Von diesen 25 Todesurteilen werden 12 vollstreckt. Die Nachfolgeprozesse bestätigen und konkretisieren die elementare Rechtsposition, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer strafbar sind, also auch dann, wenn sie sich auf die Gesetze eines Staates stützen.

Am 11. Dezember 1946 verabschiedet die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, die die Strafbarkeit von Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt. Damit werden die obigen Prinzipien Bestandteil des Völkerrechts.

Die Nürnberger Prozesse und deren Nachfolgeprozesse sind die erste Aufarbeitung der Verbrechen des NS-Regimes. Es sind besonders amerikanische Staatsanwälte und Richter, die in kürzester Zeit Dokumente und Belastungsmaterial zusammentragen und die Grundlagen für eine zukünftige Rechtsprechung schaffen, in deren Zentrum die Menschenrechte und nicht die Machtausübung der Staaten stehen. Zugleich zeigen besonders die Nachfolgeprozesse das Umfeld, ohne das Hitler seine Verbrechen nicht verwirklichen hätte können – die Mordkommandos in den besetzten Gebieten in den Vernichtungslagern ebenso wie die Unterstützerinnen und Unterstützer und Profiteurinnen und Profiteure der Verbrechen in Partei, Staat, Wirtschaft, Verwaltung und Militär. Damit war zugleich die Basis gegeben, auf der die weitere Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland hätte erfolgen können.

Dies allerdings geschieht nur unzureichend. Weite Teile der Bevölkerung stehen den Prozessen, die sie als „Siegerjustiz“ betrachten, ablehnend gegenüber. Die Berichte über die NS-Verbrechen werden vielfach als „übertrieben“ angesehen. Weit verbreitet ist auch die Meinung, dass die Taten lediglich von einer kleinen Clique um Hitler begangen wurden und dass deshalb mit der Aburteilung der Hauptschuldigen das Kapitel NS-Verbrechen geschlossen werden könne. Auch die Rechtfertigung der Beschuldigten, sie hätten „nichts gewusst“, seien „getäuscht“ und „missbraucht“ worden, hätten lediglich „Befehle befolgt“ oder „mitgemacht, um Schlimmeres zu verhüten“, werden im öffentlichen Bewusstsein zunehmend als kollektive Selbstamnestie übernommen.

Ein Hauptanliegen der Verteidigung ist, die Beteiligung der Wehrmacht an den Verbrechen zu leugnen und diese allein Hitler und seinem engsten Umfeld anzulasten. Es entsteht so der Mythos von der „sauber gebliebenen Wehrmacht“, die mit den Kriegsverbrechen nichts zu tun habe und deren Soldaten ehrenhaft Mann gegen Mann im Felde gekämpft hätten.

Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess 1958 und der Frankfurter Auschwitz-Prozess

Obwohl die Nürnberger Prozesse eine völkerrechtliche Grundlage für die weitere strafrechtliche Aufarbeitung der Naziverbrechen geboten hätten, geschieht in den folgenden Jahren in der Bundesrepublik Deutschland nichts. Bis zum ersten Prozess wegen Kriegsverbrechen, dem Ulmer Einsatzgruppenprozess, dauert es bis 1958.

Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess beginnt am 28. April 1958 vor dem Schwurgericht Ulm und richtet sich gegen zehn Angehörige der Gestapo, des SD (Sicherheitsdienst) und der Ordnungspolizei. Sie gehörten zum Einsatzkommando Tilsit, das zwischen Juni und September 1941 5.502 jüdische Kinder, Frauen und Männer im litauisch-deutschen Grenzgebiet ermordet hat. Sämtliche Angeklagten werden wegen „Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord“ zu Haftstrafen zwischen 3 und 15 Jahren verurteilt. Die Angeklagten berufen sich darauf, auf Befehl gehandelt zu haben und erreichen damit geringe Strafen.

Der Hauptangeklagte, der ehemalige SS-Oberführer Bernhard Fischer-Schweder, der wegen Beihilfe zum Mord in 3907 Fällen zu 15 Jahren Haft verurteilt wird, hat selbst den Stein ins Rollen gebracht. Er klagt in der Meinung, trotz tausendfacher Morde ein Anrecht auf Beschäftigung im Öffentlichen Dienst zu haben, auf Wiedereinstellung. Erst durch diese Klage und nicht durch eigene Ermittlungen werden die Behörden auf ihn aufmerksam und leiten ein Verfahren ein.

Mit dem Prozess rücken erstmals in der Bundesrepublik Deutschland die Verbrechen der Nationalsozialisten in den Fokus einer allerdings noch begrenzten Öffentlichkeit. Dazu schreibt die Süddeutsche Zeitung:

Drei Juristen war es zu danken, dass es überhaupt zum Prozess kam, drei Einzelkämpfern, einstigen Hitlergegnern, die sich gegen die herrschende Stimmung in der westdeutschen Justiz zusammenschlossen: dem Stuttgarter Generalstaatsanwalt Richard Schmid, seinem Nachfolger Erich Nellmann und dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Da Ulms Richter mit dem Prozess nichts zu tun haben wollten, gelang es den dreien, einen Stuttgarter Richter hinzuzuziehen: Edmund Wetzel.

Diese vier haben sich um die deutsche Justiz mehr als verdient gemacht. Der Prozess erschütterte die Öffentlichkeit. Vom Tod im Gas, sagt Beer*, habe man gewusst, nicht aber davon, dass Tausende erschossen wurden, nachdem sie für sich selbst Massengräber hatten ausheben müssen; dass Frauen und Kinder totgeschlagen wurden, weil man Munition sparen wollte; dass Kleinkinder vor den Augen ihrer Mütter in Teichen ertränkt wurden. (2)

Historische Geste: Der Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos

Mit dem Prozess werden die Defizite bei der Ermittlungsarbeit, bei der Dokumentation und der Verfolgung der Verbrechen unübersehbar. Eine unmittelbare Folge des Ulmer Prozesses ist die Einrichtung der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg. Ihre Ermittlungen und Akten liegen bis heute in fast allen Fällen der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Tätern zugrunde.

Die Aufmerksamkeit, die der Ulmer Kriegsverbrecherprozess geschaffen hat, wird durch den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, einem der Hauptorganisatoren des Holocausts und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse verstärkt. Dies trägt erheblich dazu bei, dass der Deutsche Bundestag 1965 die vorher zwanzigjährige Verjährungsfrist für Mord verlängert und schließlich aufhebt. Ansonsten wären nach 1965 keine Anklagen gegen NS-Massenmörder und keine Sühne der Taten möglich gewesen.

Ausführlich zum Frankfurter Auschwitz-Prozess: Fritz Bauer und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse

Ein Hollywood-Film bringt den Durchbruch

In den folgenden Jahren ist es vor allem die 68er Bewegung, die vehement auf eine Aufklärung der NS-Verbrechen und die Nennung der daran Beteiligten und deren Hintermänner drängt. Allerdings ruft dieses Drängen auch in weiten Bereichen Abwehrmechanismen hervor, so dass eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung ausbleibt.

Den Durchbruch bringt ein Hollywood-Film. „Holocaust – die Geschichte der Familie Weiss“ ist der Titel einer vierteiligen Fernsehserie, die 1978 ausgestrahlt wird. Die Serie zeigt anhand der weit verzweigten fiktiven jüdischen Familie Weiss die Geschichte des Holocaust: die Nürnberger Rassengesetze, die Reichspogromnacht, die Entrechtung und Verschleppung der Jüdinnen und Juden, die Massaker in den besetzten Gebieten wie der Massenmord an 30 000 Kiewer Jüdinnen und Juden in der Schlucht von Babin Jar, die „Endlösung“ in den Konzentrationslagern, den Aufstand im Warschauer Ghetto und dessen Niederschlagung sowie das Schicksal der Überlebenden. Erstmals findet während und nach dieser Serie, die 20 Millionen Zuschauer sehen, eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust statt. Die Geschichte der Familie erzeugt zugleich eine emotionale Betroffenheit, die nicht vorrangig von Schuldabwehr geprägt ist. Damit verändert der Film die Wahrnehmung der Geschichte. (3)

Die veränderte Wahrnehmung der Geschichte

Lange war das in der Bundesrepublik vorherrschende Bild von den nationalsozialistischen Verbrechen von der Vorstellung bestimmt, diese seien von einer kleinen Clique um Hitler befohlen und von Sadistinnen und Sadisten, Schlägern, gescheiterten Existenzen und „Asozialen“ (so der damalige Bundeskanzler Adenauer) aus unteren und teilweise kriminellen gesellschaftlichen Milieus ausgeführt worden. Damit wurde die Verantwortung für die Verbrechen aus der Mitte der Gesellschaft ausgelagert und auf kriminelle Randexistenzen verlegt.

Ab der Mitte der siebziger Jahre mehren sich Arbeiten aus der Geschichtsforschung, die diese bequeme Sicht widerlegen und die tatsächlichen Betreiber und Nutznießer der Vernichtungspolitik in das Blickfeld rücken:

Die Generäle und Offiziere der Wehrmacht etwa, die für die Hungerstrategie gegenüber den Kriegsgefangenen und der sowjetischen Zivilbevölkerung verantwortlich waren. Die Staatssekretäre und Ministerialbeamten, welche diese Strategien vor dem Beginn des Krieges gegen die UdSSR erdacht und geplant hatten. Die deutschen Beamten und Funktionäre, die in Polen und Russland die Umsiedlungen der einheimischen Bevölkerung organisierten, um für deutsche Ansiedler Platz zu machen. Die jungen Kommandeure von Polizei- und Einsatzgruppeneinheiten, die im Baltikum oder in Weißrussland hinter der Front die jüdische Bevölkerung massakrierten. Die Betriebsleiter, die die Arbeitskraft der KZ-Häftlinge in unterirdischen Produktionsanlagen ausbeuteten. Die Wissenschaftler, die dem Regime zuarbeiteten… Die Ärzte, die das ‚unwerte Leben‘ diagnostizierten und es zur Euthanasie, also zum Tod durch Vergasen freigaben. Die Rassekundler, die ‚zigeunerische Sippen‘ ausfindig machten und zur Deportation vorschlugen. Aber auch die vielen Deutschen, die an der Beraubung der Juden verdienten – durch Übernahme der jüdischen Betriebe und Wohnungen.“ (4)

Mit diesen Forschungen wird das bereits von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und deren Nachfolgeprozessen gezeichnete Bild des NS-Regimes und seiner Funktionsträger und Profiteure weiter konkretisiert. Es ist ein Bild, das mit den Vorstellungen von „SA-Schlägern“ und „Asozialen“ nichts zu tun hat. Stattdessen belegen die Forschungen die Verstrickung weiter Teile gerade der gesellschaftlichen Eliten und des Staatsapparats in die Verbrechen des NS-Regimes. Zugleich wird deutlich, dass die geistigen Grundlagen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik keine Wahnvorstellungen von Außenseitern sind, sondern auf rassistischen, sozialdarwinistischen und antisemitischen Auffassungen und Feindbildern fußen, die nicht nur die gesamte Rechte teilt, sondern auch weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreichen. (5)

Der veränderte Blick auf die NS-Geschichte setzt sich nicht bruchlos durch, sondern ruft eine Reihe von Auseinandersetzungen und Konflikten hervor.

Am 8. Mai 1985 hält der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes eine historische Rede. Gegen viele Widerstände und Anfeindungen erklärt er als erstes deutsches Staatsoberhaupt, was vorher ein Tabu war: dass der Tag des Kriegsendes in Europa für die Deutschen kein Tag der Niederlage, sondern ein „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ gewesen sei. (6)

1993 erscheint das Buch „Ganz normale Männer – das Reserve-Polizei-Bataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen“ des Historikers Christopher Browning. Browning zeichnet am Beispiel des Bataillons die Massaker der Ordnungspolizei im besetzten Osteuropa nach. Er belegt in detaillierten Recherchen, dass das Bataillon an der Ermordung von mindestens 38 000 Jüdinnen und Juden und der Deportation weiterer 45 000 Jüdinnen und Juden direkt beteiligt war. Zugleich widerspricht er der Rechtfertigungslegende, die Einsatzkräfte seien zum Töten gezwungen worden. Stattdessen hatte der Kommandant der Einheit, Major Trapp, vor der Truppe erklärt, dass Polizisten, die sich nicht in der Lage sehen, den „Auftrag zu erfüllen“, vortreten sollten und dann anderweitig verwendet würden. Von diesem Angebot machten 12 der 500 Angehörigen des Bataillons Gebrauch. Keiner dieser zwölf Polizisten wurde wegen Befehlsverweigerung bestraft.

Am 5. März 1995 wird unter dem Titel „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung eröffnet. Erklärtes Ziel der Ausstellung ist es, die „Legende von der sauberen Wehrmacht“ zu widerlegen. Vielmehr war die Wehrmacht aktiv beteiligt an einem „Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen”. (7)

Zur Vorstellung der Ausstellung schreiben die Verfasser:

Der Krieg gegen die Sowjetunion unterschied sich von allen Kriegen der europäischen Moderne, auch von denen, die die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in anderen Ländern führte. Es war ein Krieg, der sich nicht nur gegen eine andere Armee, sondern auch gegen Teile der Zivilbevölkerung richtete. Die jüdische Bevölkerung sollte ermordet, nicht-jüdische Zivilisten sollten durch Hunger und Terror dezimiert und zur Zwangsarbeit eingesetzt werden. Dieses verbrecherische Vorgehen ergab sich nicht aus der Eskalation des Kriegsgeschehens, sondern war bereits Bestandteil der Kriegsplanungen. Die Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944« zeigt ausgehend vom damals geltenden Kriegs- und Völkerrecht die Beteiligung der Wehrmacht an den im Zweiten Weltkrieg auf Kriegsschauplätzen im Osten und in Südosteuropa verübten Verbrechen. Sie dokumentiert insgesamt sechs Dimensionen des Vernichtungskrieges: Völkermord an den sowjetischen Juden; Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen; Ernährungskrieg; Deportationen von Zwangsarbeitern; Partisanenkrieg; Repressalien und Geiselerschießungen. Die Ausstellung zeigt die teils aktive, teils passive Mitwirkung der Wehrmacht an den verübten Verbrechen. (8)

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Neonazis protestieren gegen die Wehrmachtsausstellung

Dass deutsche Wehrmachtssoldaten Kriegsverbrechen begingen und die Wehrmacht tief in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt war, ist heute unumstritten und bereits durch die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse belegt. Noch 1995 wurde diese lange verdrängte Wahrheit als Provokation verstanden, die heftigste Auseinandersetzungen und Aufmärsche von Neonazis auslöste.

 

1996 erscheint das Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ des amerikanischen Historikers Daniel Jonah Goldhagen. (9) Auch Goldhagen widerspricht der verbreiteten Meinung, der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden sei nur von Hitler und einer kleinen Clique um ihn beschlossen und von der SS ausgeführt worden. Stattdessen belegt Goldhagen akribisch die Verstrickung von Wehrmacht, Polizei, Justiz, Verwaltung, Wehrwirtschaft, Blockwarten und Denunzianten in den Holocaust. Er zeigt, dass vielfach nicht aufgrund eines „Befehlsnotstandes“ gemordet wurde, sondern freiwillig, auf eigene Initiative und mit sadistischer Freude am Quälen. Goldhagen belegt weiterhin, dass der „eliminatorische Judenhass“ schon vor 1933 in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet war und auch ohne Befehl weiterwirkte, so dass in den Tagen nach der Kapitulation noch vielfach Jüdinnen und Juden, die dem Tod in den Konzentrationslagern entgangen sind, von deutschen Soldaten und Zivilisten auf eigene Initiative ermordet wurden.

Goldhagens pointierte Thesen lösen kontroverse, aber vielfach auch produktive Diskussionen aus. Er wird besonders von Seiten der politischen Rechten massiv angegriffen, wobei häufig antisemitische Klischees Fakten und Argumente ersetzen. So bemüht Peter Gauweiler im CSU-Parteiorgan Bayernkurier das Bild des geldgierigen Juden. Gauweiler wirft dem Sohn des Holocaust-Überlebenden Erich Goldhagen vor, er habe durch einen gegen die Deutschen gerichteten „umgekehrten Rassismus“ einen „ökonomischen Ertrag“ erzielt, der „von Fachleuten auf über eine Million Deutschmark geschätzt“ werde. (10)

Zur veränderten Wahrnehmung der Geschichte tragen auch viele Aktivitäten im lokalen und regionalen Bereich bei. Geschichtswerkstätten etwa beginnen Archive zu durchforsten, entdecken bald Widersprüche zu offiziellen Darstellungen und die dunklen Stellen in manchen Biografien. Je mehr geforscht wird, umso deutlicher wird die Verstrickung von Militär, Verwaltung, Polizei, Justiz und Politik in die Verbrechen des NS-Regimes und umso mehr bestätigten sich die Kernthesen der Wehrmachtsausstellung und Goldhagens.

Eine Reihe großer Konzerne wie VW und Daimler Benz kommt nicht umhin, ihre Konzerngeschichte, insbesondere den Einsatz von Zwangsarbeitern, von unabhängigen Historikern untersuchen zu lassen. Solche Untersuchungen werden ebenfalls bei verschiedenen Ministerien wie dem Auswärtigen Amt, bei Polizeidienststellen wie der Münchner Polizei, bei Nachkriegsparlamenten oder dem BND in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist stets dasselbe: Das natinalsozialistische Regime konnte sich bei seinen Verbrechen auf die reibungslose Zusammenarbeit und bereitwillige Unterstützung durch Wirtschaft und Verwaltung verlassen. Zugleich haben Hitlers Unterstützer nach dem Krieg problemlos wieder führende Positionen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft eingenommen. Mit der Aufarbeitung stellt sich die lange verdrängte Frage, wie zukünftig eine ähnliche Komplizenschaft mit einem verbrecherischen Regime verhindert werden kann. (11)

Unsere Empfehlung:

Video: „Es war, als hätte ich in die Hölle geschaut“
Benjamin Ferencz war 27, als bei den Nürnberger Prozessen die Anklage vortrug. Der Hundertjährige erinnert sich, wie er in KZs ermittelte und die SS-Einsatzgruppen vor Gericht brachte. Das Video enthält erschütternde Aufnahmen, die man aber nicht aussparen kann, wenn man verstehen will, was Faschismus bedeutet.

Zu sehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=mf2W6Q-eAjQ

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Die Stadt Nürnberg wurde bewusst als Ort der Hauptkriegsverbrecherprozesse gewählt, weil sie für die NSDAP eine besondere Bedeutung hatte. In Nürnberg fanden die Reichsparteitage statt. Dort wurden die „Nürnberger Gesetze“ proklamiert. Und nicht zuletzt erschien in Nürnberg das Schmier- und Hetzblatt „Der Stürmer“ des Kriegsverbrechers Julius Streicher. Die Prozesse fanden im Gerichtsgebäude in der Fürther Straße statt. In einem Trakt des historischen Gebäudes befindet sich eine sehenswerte Dauerausstellung zu den Kriegsverbrecherprozessen. Ein Teil der Ausstellung zu den Hauptkriegsverbrecherprozessen ist auch online verfügbar: https://museen.nuernberg.de/memorium-nuernberger-prozesse/themen/die-nuernberger-prozesse/nuernberger-prozesse/
Lesenswerte und ausführliche Berichte über die Kriegsverbrecherprozesse finden sich bei: Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. Eine umfassende Sammlung der Anklagen, Zeugenaussagen und Verhöre findet sich in „Trials of War Criminals“, Washington 1951.

(2) Zum Ulmer Einsatzgruppengruppenprozess siehe: https://www.sueddeutsche.de/politik/strafverfolgung-von-ns-verbrechern-richter-moerder-und-gehilfen-1.538006
*Der Richter a. D. Klaus Beer, der damals als Referendar am zuständigen Gericht arbeitete, schreibt in seinen Erinnerungen “Auf den Feldern von Ulm”, die Ulmer Staatsanwälte seien “nicht bereit oder fähig” gewesen, sich ihrer Pflicht anzunehmen.
Weiterer Bericht: https://www.spiegel.de/geschichte/ns-prozesse-a-946905.html

(3) Auf Wikipedia befinden sich Beschreibungen des Inhalts der vier Filme und weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Holocaust_%E2%80%93_Die_Geschichte_der_Familie_Weiss
Die Filme können im Handel erworben werden.
Die Filme sind ebenfalls bei youtube eingestellt:
Teil1: Die heranbrechende Dunkelheit, https://www.youtube.com/watch?v=_t5Tj3IfY3s
Teil2: Die Straße nach Babi Yar, https://www.youtube.com/watch?v=g1f-_oSObzc
Teil 3: Die Endlösung, https://www.youtube.com/watch?v=hy6HrUSY2k4
Teil 4: Die Überlebenden, https://www.youtube.com/watch?v=pXEoFxGYQdU

(4) Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten, S.22

(5) Es gab auch in den fünfziger und sechziger Jahren eine Reihe wichtiger Forschungen und Publikationen zu diesen Themen. Allerdings fanden sie in der Zeit der Schlussstrich-Mentalität und des Kalten Krieges nur wenig Aufmerksamkeit und wurden nicht selten als bolschewistische Propaganda verunglimpft.

(6) Zu der Rede siehe u.a.: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/217619/wir-muessen-die-vergangenheit-annehmen/

(7) Eine Neuerscheinung des Ausstellungskatalogs (voraussichtlich 11. Oktober 2021) ist gegenwärtig in Vorbereitung.

(8) zit. nach dem Ausstellungskatalog, Ausgabe 1996, Hamburger Institut für Sozialforschung
Einen Überblick über die „Organisationen, die zu Vollstreckern nationalsozialistischer Verbrechen wurden“ gibt: Heinz Artzt, Mörder in Uniform, Kindler1979. Artzt war langjähriger stellvertretender Leiter der Ludwigshafener Zentralstelle zur Aufklärung von nationalsozialistischen Verbrechen.

(9) Daniel Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1998

(10) Gauweiler im Bayernkurier, 12.10.1996; siehe dazu auch: https://taz.de/!1434115/

(11) Ein Beispiel für die Aufarbeitung ist die Studie „Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit“, https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Studie-Conti-war-Rueckgrat-der-NS-Wirtschaft,continental696.html

 

Fotonachweise:

Die Anklagebank beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess: Work of the United States Government, Defendants in the dock at the Nuremberg Trials, Diese Datei ist im Bestand der National Archives and Records Administration verfügbar, katalogisiert unter dem National Archives Identifier (NAID) 540128, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=182386

Historische Geste: Der Kniefall des Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos: ObschtTea, 2Euro 50JahreKniefall, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=96572828

Neonazis protestieren gegen die Wehrmachtsausstellung: Andreas Bohnenstengel, Neonaziaufmarsch in Muenchen, CC BY-SA 3.0 DE, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18286212