Die Todesmärsche

NS-Verbrechen in der Endphase

In den letzten Kriegstagen folgt noch einmal eine Abrechnung mit den angeblichen Feindinnen und Feinden Deutschlands. In den „Endphaseverbrechen“ werden Zeuginnen und Zeugen beseitigt, KZ-Häftlinge auf Todesmärsche geschickt, verzweifelte Soldaten wegen „Wehrkraftzersetzung“ hingerichtet und der bröckelnde Glaube an den „Endsieg“ mit dem Tode bestraft.

„Ich hänge hier, weil ich ein ehrloser Lump bin“

Während die deutschen Truppen nach 1942 immer weiter zurückweichen müssen und dem Militärpotenzial der Alliierten hoffnungslos unterlegen sind, während die deutschen Städte in Schutt und Asche versinken, reden Hitler und seine Getreuen weiter vom „Endsieg“ der „überlegenen deutschen Rasse“. Um die Soldaten, die mehr und mehr die Realitätsverweigerung ihrer Führung erkennen, zur Fortführung eines sinnlosen Krieges zu zwingen, greift die NS-Führung zu drakonischen Maßnahmen. Am 15. Februar 1945 wird eine Verordnung zur Einrichtung von Standgerichten erlassen, die zahlreiche Todesurteile verhängen. Die Exekutionen erfolgen zur Abschreckung vor den Augen der Truppe. Den Erschossenen oder Erhängten werden Schilder umgehängt, die Aufschriften tragen wie: „Ich hänge hier, weil ich nicht an Adolf Hitler glaube“, „Ich habe mein Volk verraten“, „Ich hänge hier, weil ich ein ehrloser Lump bin“.

Im September 1944 ordnet Hitler die Bildung eines „Volkssturms“ aus allen waffenfähigen ‚Männern‘ im Alter von 16 bis 60 Jahren an. Hitlers letztes Aufgebot kann weder militärisch ausgebildet noch ausgerüstet werden. Statt einer Uniform reicht es gerade zu einer Armbinde. 1945 werden dann auch Frauen und Mädchen zu Hilfsdiensten für den „Volkssturm“ herangezogen, um sich ebenfalls für „Führer, Volk und Vaterland“ zu opfern.

Noch bis in die letzten Tage hinein versucht das Regime, dabei eine legale Fassade zu wahren. Es stützt sich dabei auf die Kriegssonderstrafrechtsverordnung von 1938, nach der „Wehrkraftzersetzung“ mit dem Tode zu bestrafen ist. Als „Wehrkraftzersetzung“ gelten nicht nur Kriegsdienstverweigerung, Desertion, und Selbstverstümmelung, sondern auch Äußerungen, die „öffentlich den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen oder zu zersetzen suchen.“ (1)

Die Formulierung bietet einen weiten Auslegungsspielraum, sodass jede kritische Äußerung zu Staat, Partei und dem „Führer“ zur „Zersetzung der Wehrkraft“ erklärt werden kann. Gegen Kriegsende wird sie zunehmend auch auf den zivilen Bereich übertragen, wobei der Vorwurf des mangelnden Glaubens an den Endsieg für jede und jeden im Deutschen Reich das Todesurteil nach sich ziehen kann. Im März 1945 bestimmt der Flaggenerlass des Reichsführers SS Heinrich Himmler, dass Deutsche, die sich dem Feind ergeben wollen und eine weiße Flagge hissen, sofort zu erschießen sind.

Todesurteil wegen „Wehrkraftzersetzung“

Das Denunziantentum blüht. Allein der Verdacht, nicht an den Endsieg zu glauben, Hitler kritisch gegenüberzustehen, Judenfreund zu sein oder „Feindsender“ zu hören, kann tödlich sein. Dies wird immer wieder benutzt, um persönliche Rechnungen zu begleichen. Besonders Gegnerinnen und Gegner des NS-Regimes – gleich ob nur vermutet oder tatsächlich – sollen den Triumph eines Untergangs des “Dritten Reiches” nicht erleben. „Es ist die letzte Abrechnung mit Gegnern, denen die Zukunft zu gehören scheint”, sagt der Historiker Sven Keller. (2)

Dem Zellinger Bauern Karl Weiglein etwa wird zum Verhängnis, dass er eine Brückensprengung kritisiert, mit der ein rasches Vordringen der amerikanischen Armee verhindert werden soll. Zudem habe er die Drohung, wer sich dem Volkssturm entzieht, werde vor ein Standgericht gestellt, mit einem widerspenstigen „Oho!“ kommentiert. Der Langenselbolder Zimmerpolier Valentin Schmidt wird im März 1944 vom Volksgerichtshof in Berlin wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt, weil er geäußert hatte, der Krieg sei verloren. Selbst NSDAP-Parteigenossen, die in Erwartung der nahenden Alliierten vorschnell Hitler-Porträts von den Wänden nehmen, werden wegen „Verrats“ exekutiert. (3)

Die Zahl der Verfahren vor NS-Kriegsgerichten beträgt mindestens 700 000. Die Kriegsgerichte verhängen insgesamt rund 50 000 Todesurteile, darunter rund 30 000 wegen „Wehrkraftzersetzung“. Vielfach werden die Verurteilten auch in Konzentrationslager verschleppt oder in „Bewährungseinheiten“ an der Ostfront eingesetzt, was oft einem Todesurteil gleichkommt. Die Verurteilungen werden umso zahlreicher und härter, je aussichtsloser der Krieg wird. Mehr als zehntausend Soldaten und Zivilistinnen und Zivilisten finden auf diese Weise noch in den letzten Kriegstagen den Tod. (4)

Trotz des Zusammenbruchs des NS-Regimes gibt es weiterhin verblendete und fanatische Anhängerinnen und Anhänger Hitlers, die selbst Verbrechen an den eigenen Kindern für richtig halten. So bedauert eine Mutter im letzten Brief an ihren wegen „Fahnenflucht“ zum Tode verurteilten 20-jährigen Sohn nicht etwa dessen Hinrichtung, sondern die „Schande“, die er über die Familie gebracht hat:

Lieber Günter! Die Welt ist voll Leid und Kummer, und uns drückt das Schicksal, einen ungeratenen Sohn zu haben. (…) Du hättest Dir und uns die Schande ersparen können. (5)

Todesmärsche

Ab 1944 beginnt die SS frontnahe Konzentrationslager aufzulösen. Sie beseitigt Beweise und jene, die ihre Verbrechen bezeugen könnten. Die Todesmärsche beginnen im Januar 1945 nach der Auflösung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Die Häftlinge werden, soweit sie gehfähig sind, bei eisiger Kälte in dünnen Häftlingsanzügen zu Gewaltmärschen ins Reichsinnere gezwungen oder in Eisenbahnwaggons transportiert. Nicht mehr gehfähige Häftlinge und Kinder werden ermordet oder einfach ihrem Schicksal überlassen.

Die Todesmärsche sind öffentliche Schauplätze der Vernichtung. Die Morde finden nicht mehr abgeschirmt hinter Stacheldraht und Wachtürmen statt, sondern vor aller Augen, auf offener Straße, in Scheunen, leeren Fabrikhallen und Straßengräben.

Anfang 1945 befinden sich über 700 000 Häftlinge in den verbliebenen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Rund 300 000 Gefangene überleben die oft Wochen dauernden Märsche und Transporte nicht. Sie verhungern, erfrieren, werden Opfer von brutalen Misshandlungen und willkürlichen Erschießungen, brechen entkräftet zusammen und werden dann von den Wachmannschaften erschossen. (6)

Am 7. Mai 1945 – eine Woche nach der Selbsttötung Hitlers und einen Tag vor der Kapitulation des Deutschen Reiches – wird der amerikanische Sanitätsoffizier Christopher G. zu einer Holzbaracke in der Nähe der südböhmischen Kleinstadt Volary (Wallern) gerufen, in der sich 118 jüdische Frauen und Mädchen befinden. Er erinnert sich:

Ein erster Blick auf diese Menschen löste in mir einen tiefen Schock aus. Ich konnte einfach nicht glauben, dass man ein menschliches Wesen derart erniedrigen könne, dass es so ausgehungert sein kann, so bis auf die Haut abgemagert und dass es unter diesen Umständen noch leben kann …. Nicht nur ihre Kleider waren zerfetzt und zerrissen, sie waren auch über und über mit menschlichen Exkrementen beschmiert. Der Grund dafür war, dass diese Frauen schwer an Ruhr litten. Sie waren zu schwach hinauszugehen, um ihre Därme zu entleeren. (7)

Fast alle Frauen müssen in ein eilig errichtetes Lazarett getragen werden – sie sind zu schwach, um zu gehen. Fast alle benötigen Blutkonserven, um zu überleben. Der Arzt berichtet von extremer Unterernährung und Dehydrierung, offenen Füßen, Ödemen, Frostbeulen, offenem Wundbrand, Eiterbeulen durch Wundliegen, schweren Auswurfhusten und Lungenentzündungen, Brüchen und Verletzungen durch Granatsplitter, die nicht behandelt wurden.

Die von ihrer Wachmannschaft, die vor der nahenden US-Armee geflohen ist, dem vermeintlich sicheren Tod überlassenen Frauen sind die letzten Überlebenden des „Helmbrechtser Todesmarsches“, der ursprünglich mit mehr als 1000 jungen jüdischen Frauen im Konzentrationslager Schlesiersee begonnen hatte. Das Ziel des Marsches war, die Frauen qualvoll zugrunde gehen zu lassen. Sie erhalten kaum Essen und Trinken. Es wird ihnen verboten, aus Flüssen zu trinken oder verschimmelte Kartoffelschalen aufzuheben. Oft müssen sie bei eisiger Kälte schutzlos im Freien übernachten. Brutale und sadistische Gewalt der Aufseher ist allgegenwärtig, der Tod durch Erschlagen oder Erschießen eine ständige Bedrohung.

Sich das Elend dieser Frauen vorzustellen, wie sie sich oft barfuß über frostkalte Straßen schleppten, ist kaum möglich. Jeder qualvolle Schritt verhieß nur den nächsten, jeder Tag war so schmerzerfüllt wie der vorausgegangene. Jeden Morgen erwachten sie mit nagendem Hunger, mit geschwollenen und vereiterten Füßen, mit steifen Gliedern und offenen Wunden, die nicht heilen wollten. Sie wussten, dass ein ganzer Tagesmarsch vor ihnen lag und dass ihre Peiniger ihnen kaum Gelegenheit zum Ausruhen geben würden. Wenn es schließlich Abend würde, bekämen sie vielleicht einige Bissen Nahrung und würden dann in einen fiebrigen, schmerzerfüllten Halbschlaf fallen, nur um am nächsten Tag diesen Kreislauf des Schreckens zu wiederholen … Die Deutschen schlugen sie aus jedem erdenklichen Anlass, und sie schlugen grundlos. Sie schlugen die jüdischen Frauen, weil sie krank waren. Sie schlugen sie, weil sie sich zu schleppend fortbewegten. Wenn die Bewohner mancher Orte versuchten, den Jüdinnen Lebensmittel zuzustecken, schlugen die Aufseher auf die Jüdinnen ein, die sie angenommen hatten. (8)

Einzeln dokumentiert sind mehr als 50 Todesmärsche, die sich über das gesamte noch unter Naziherrschaft verbliebene Reichsgebiet erstreckten.

 

Einer dieser Märsche geht am 24. März 1945 – vier Tage vor der Befreiung Frankfurts – vom KZ Adlerwerke in Frankfurt nach Buchenwald bei Weimar. 350 Häftlinge werden gezwungen, zunächst Richtung Fechenheim zu marschieren. Sobald das Frankfurter Stadtgebiet hinter ihnen liegt, werden entkräftete und deshalb zurückbleibende Häftlinge durch Kopfschuss ermordet. Auf diese Weise werden bereits auf dem Weg nach Hanau 24 Häftlinge getötet. Jüdische Häftlinge müssen zusätzlich schwere Karren ziehen, wobei sie zusammenbrechen und dann erschossen werden. Von den 350 Häftlingen erreichen 280 Buchenwald. Von dort aus werden sie auf einen weiteren Marsch zum Konzentrationslager Dachau bei München geschickt, wo nur noch 40 von ihnen lebend ankommen. Zwei Tage später, am 27. April 1945, wird das KZ Dachau von der US-Armee befreit. Bis ins Jahr 1963 werden entlang der Wegstrecke des Marsches eilig verscharrte Leichen gefunden, die anhand ihrer Blechmarke der Adlerwerke identifiziert werden können. (9)

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Opfer der Todesmärsche

Tote in der Isenschnibber Feldscheune nach dem Massaker von Gardelegen

Eines der größten Massaker ereignet sich in der Feldscheune Isenschnibbe bei Gardelegen. Im April 1945 räumt die SS das Konzentrationslager Hannover-Stöcken und mehrere Außenlager des KZs Mittelbau-Dora eilig vor den heranrückenden amerikanischen Truppen. Tausende Häftlinge werden in Eisenbahnwaggons weg von der Front in östlicher Richtung in die Altmark gebracht. Der letzte Transport kann wegen der zerstörten Gleisanlagen nicht fortgesetzt werden. Die SS zwingt die Häftlinge zu einem Fußmarsch nach Gardelegen. Häftlinge, die nicht Schritt halten können, werden erschossen oder erschlagen. An den Misshandlungen und Morden beteiligen sich nicht nur die Wachmannschaften, sondern auch Anwohner. Durch das weitere rasche Vorrücken der US-Armee rückt die Befreiung der Häftlinge in greifbare Nähe. Die SS verhindert diese durch ein Massaker. Die Bewacher zwingen die Häftlinge, eine Großscheune zu betreten, in der vor ihrer Ankunft das ausliegende Stroh mit Benzin getränkt wurde. Die Türen werden verriegelt und die Scheune wird in Brand gesetzt. Häftlinge, die sich widersetzen oder fliehen wollen, werden erschossen. Insgesamt werden 1016 Menschen ermordet, von denen aufgrund der schrecklichen Verbrennungen nur 305 identifiziert werden können. Der Massenmord, an dem sich auch Angehörige der Wehrmacht, des „Volkssturms“ und der örtlichen Feuerwehr beteiligen, dauert bis tief in die Nacht an. Das baldige Eintreffen der US-Armee vereitelt den Versuch der Täter, mit Hilfe der Feuerwehr und des Technischen Notdienstes die Spuren des Massakers zu beseitigen. (10)

Von der deutschen Bevölkerung haben die zu Skeletten abgemagerten, hungernden, frierenden, von Krankheit und Misshandlungen gezeichneten Häftlinge kaum Hilfe zu erwarten. Immer wieder beteiligen sich Einheimische am Aufspüren, Misshandeln und Erschlagen von Häftlingen, die aus den Todeskolonnen flüchten konnten. Das geschieht vielfach in der Form regelrechter Treibjagden. Wegen der gestreiften Häftlingsanzüge wird die Menschenjagd auch „entlaufene Zebras jagen“ genannt. Umgekehrt müssen Deutsche, die Mitgefühl mit den Häftlingen haben und ihnen ein Stück Brot zustecken, mit Denunziation, Verhaftung und drakonischen Strafen rechnen.

Nur vereinzelt hilft die deutsche Bevölkerung den Häftlingen. So in Palmnicken, einer Kleinstadt an der Ostsee. Dort versorgen Einheimische Häftlinge, die aus dem KZ Stutthof im Elsass gekommen sind, mit Brot und Kartoffeln. In der Nacht marschieren SS-Männer auf und richten ein Massaker an. Sie lassen die Häftlinge vor der gefrorenen See antreten. Ein Überlebender berichtet:

Jedes Mal trennten sie zehn Fünferreihen ab, schickten sie nach vorne und trieben sie auf das dünne Eis. Es herrschte grauenhafte Finsternis. Wir mussten uns flach auf das Eis legen, und dann fingen sie sogleich an, aus schweren Maschinengewehren auf uns zu schießen.

3000 Häftlinge werden in dieser Nacht ermordet. (11)

In den letzten Wochen und Tagen des Krieges herrscht in Deutschland zunehmend Chaos. Kommunikations- und Befehlsstrukturen sind weitgehend zusammengebrochen.

Die deutschen Aufseher wurden (bei den Todesmärschen in den letzten Kriegstagen) nicht einmal durch ihre Befehlshaber kontrolliert. Mögliche Bestrafungen durch übergeordnete Instanzen hatten sie also nicht zu befürchten. Ohne Schwierigkeiten hätten sie sich von den Todesmärschen absetzen und fliehen können… Hätten sie die Misshandlung und Tötung von Juden abgelehnt, hätte es spätestens jetzt die Möglichkeit gegeben, die Juden anständig zu behandeln. (12)

Die Wachmannschaften quälten und töteten jedoch weiter – nicht auf höheren Befehl, sondern aus freiem Willen und eigener Initiative und dem sadistischen Vorsatz, die verhassten Häftlinge vor ihrem Tod noch möglichst lange leiden zu lassen. Historiker wie Daniel Goldhagen sehen darin einen Beleg, dass Hitler die Mordkommandos nicht zum Holocaust zwingen musste, sondern dass er in Millionen Deutscher Unterstützerinnen und Unterstützer und willige Helferinnen und Helfer gefunden hat, die aus eigenem Antrieb und einem abgrundtiefen Hass Juden und Jüdinnen gequält und ermordet, die Deportationen geplant und durchgeführt und dem Töten Beifall gespendet haben.

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Totenwiese von Nammering

Die „Totenwiese“ von Nammering: Am 24. April 1945 werden in Nammering bei Passau 800 Häftlinge aus dem KZ Buchenwald von der SS ermordet und in Massengräbern verscharrt. Um den Einheimischen der umliegenden Dörfer die NS-Verbrechen vor Augen zu führen, müssen sie auf Veranlassung der US-Armee die Leichen ausgraben, zur Besichtigung auf der Totenwiese aufbahren und für eine würdige Bestattung sorgen. (13)

Weshalb aber diese Orgie der Gewalt kurz vor dem Zusammenbruch, der Hass auf wehrlose Häftlinge? Woher das Fehlen jeglicher Humanität und jeglichen Mitleids?

Die antijüdische, antikommunistische, antirussische und antipolnische Nazipropaganda, die von „Untermenschen“ sprach und diese zu „Ungeziefer“ erklärt hatte, welches man bedenkenlos ausrotten dürfe, wirkte auch in den letzten Kriegstagen weiter. Gerade der erbärmliche Zustand der Häftlinge, die durch Städte und Dörfer getrieben wurden, weckte nicht etwa Mitleid, sondern schien das Propagandabild des „Untermenschen“ zu bestätigen:

Im Allgemeinen stuften die Bürger die Gefangenen als gewalttätig und bedrohlich ein. Ihr Erscheinen provozierte Abscheu, weil sie sich wie Tiere auf jedes vergammelte Stück Essen stürzten, das sie fanden. (14)

Zugleich wurden die Häftlinge vielfach als Bedrohung gesehen. Gerade weil viele Deutsche sahen, wussten oder ahnten, welche Verbrechen Hitlerdeutschland begangen hatte und was den Häftlingen angetan wurde, ging man davon aus, sie würden sich mit Hilfe der Siegermächte an den Deutschen rächen:

Man betrachtete sie auch als verschworene Feinde Deutschlands, die nicht zögern würden, sich grausam an den Deutschen zu rächen, sobald die Amerikaner, die Briten und die Rote Armee sie befreit hätten. (15)

Aus dieser Sicht war ein Vorgehen gegen die Häftlinge ein Akt der Notwehr.

Mahnmal für die Opfer des Dachauer Todesmarsches

Besonders die fanatischen Nationalsozialisten gönnten den Häftlingen nicht den vermeintlichen Triumph, den Zusammenbruch der Deutschen zu erleben und möglicherweise über sie Gericht zu halten.

„In dem Moment entschieden viele Deutsche, dass die Gefangenen kein Recht mehr hatten zu leben, nicht nur, weil sie eine Bedrohung waren, sondern weil deren Gegenwart ihnen auch ihre eigene Niederlage vor Augen führte.“ (16)

„Das deutsche Volk hat den Untergang verdient“

Hitler und der NS-Führung war klar, dass sie mit ihren Verbrechen im Vernichtungskrieg und insbesondere mit dem Holocaust alle Grenzen überschritten hatten. Es gab danach keine Möglichkeit mehr, mit den Kriegsgegnern zu verhandeln, sondern nur noch die Alternative Sieg oder Untergang. Ziel der NS-Führung war, möglichst viele Deutsche in ihre Verbrechen einzubeziehen, damit diese sich persönlich schuldig machen und schon aufgrund der Angst, sich vor Gerichten der Kriegsgegner verantworten zu müssen, den Weg in den Abgrund bis zum Ende mitgehen.

„Der Amoklauf der Regime-Aktivisten in dieser letzten Phase beruhte nicht zuletzt auf der Erkenntnis, dass man die Brücken hinter sich abgebrochen hatte“ (17), dass also bei all den Verbrechen, die man bereits begangen hatte, es auf ein weiteres Blutbad nicht mehr ankäme. Deshalb wollten sie, solange sie dazu noch Zeit und die Macht hatten, das abschließen, was in den Vernichtungslagern wegen des Kriegsverlaufs nicht zu Ende gebracht werden konnte. Deshalb ließen sie ihrem fanatischen Hass und ihrer Mordlust freien Lauf.

Allerdings sollten viele der Täter sich irren. Die Brücken waren nicht abgebrochen. Bereits wenige Jahre nach den Morden begann der „Große Frieden mit den Tätern“. (18)

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Todesmarsch der Häftlinge des KZ Buchenwald

Der „große Frieden mit den Tätern“ führte dazu, dass fast alle Täter*innen straffrei blieben. Sie beriefen sich darauf, nur Befehle ausgeführt und nach den damals geltenden Gesetzen gehandelt zu haben.

Hitler wiederum hat keinen Sinn darin gesehen, den Krieg und damit die Leiden der Bevölkerung zu verkürzen. Das deutsche Volk sei seiner nicht würdig gewesen. Es habe sich als schwach erwiesen und damit seinen Untergang verdient. Bereits am 27. Januar 1943 sagte er nach der Niederlage in Stalingrad:

Wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, sich für seine Selbsterhaltung einzusetzen, gut: dann soll es verschwinden. (19)

Ende März 1945 wiederholt er:

Wenn der Krieg verloren geht, werde auch das Volk verloren sein. Es sei nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zum primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil sei es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hätte sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft. Was nach dem Kampf übrigbleibt, seien ohnehin die Minderwertigen; denn die Guten seien gefallen. (20)

„Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“

Es gab im nationalsozialistischen Deutschland unter dem obersten Kriegsherrn Adolf Hitler rund 3000 Kriegsrichter und Ankläger. Keiner von ihnen ist in der Bundesrepublik Deutschland wegen Rechtsbeugung verurteilt worden. Fast alle kamen erneut im Justizdienst unter und bekleideten zumeist hohe Funktionen. (21)

Die Militärrichter beriefen sich darauf, nach den geltenden Gesetzen gehandelt und geurteilt zu haben. Lange galt die Rechtfertigung: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“. Erst 1995 bewertete der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) die Praxis der Militärgerichtsbarkeit als „Blutjustiz“. Die daran beteiligten Juristen hätten „strafrechtlich wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen zur Verantwortung gezogen werden müssen“. (21)

Kein einziger Wehrmachtsrichter wurde für seine Taten zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen saßen sie in Justiz, Universitäten und Ministerien und arbeiteten erst an der Vertuschung und dann an der Rechtfertigung ihrer Taten,

 kritisierte die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries die mangelnde Aufarbeitung. (22)

In krassem Gegensatz zum Werdegang der Richter und Ankläger, die bald wieder zu Ämtern und Ansehen kamen, steht das Schicksal der verurteilten Kriegsdienstverweigerer, Deserteure, Selbstverstümmler und „Wehrkraftzersetzer“. Sie gelten auch nach dem Krieg in der Öffentlichkeit und oft auch in der eigenen Familie als Drückeberger, Simulanten, Feiglinge und Verräter, die dem deutschen Volk in den Rücken gefallen seien. Eine Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wird ihnen fast immer verweigert. Es dauerte bis zum Jahr 2002, bis der Deutsche Bundestag die Urteile der Wehrmachtsjustiz gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“ aufhob.

Keine Mehrheit fand dagegen zunächst die Aufhebung der Urteile gegen sogenannte „Kriegsverräter“. Diese seien zu Recht verurteilt worden, da sie Landesverrat begangen und das Leben der eigenen Kameraden gefährdet hätten.

Tatsächlich hielt diese noch von der Nazi-Propaganda geprägte Auffassung einer genaueren Prüfung nicht stand. In einem Forschungsprojekt der Universität Freiburg wurde eine Vielzahl von Urteilen untersucht. Dabei ließ sich kein einziger Fall finden, in dem ein verurteilter „Kriegsverräter“ die eigenen Kameraden in Gefahr gebracht hätte. In der Regel wurden Menschen wegen „Kriegsverrats“ hingerichtet, weil sie sich für Juden eingesetzt, Kriegsgefangene anständig behandelt oder Hitler kritisiert haben. (23) Auch gab es immer wieder Hinrichtungen, weil Soldaten und Offiziere Courage und Menschlichkeit gezeigt haben – wie etwa ein Polizeioffizier, der als „Kriegsverräter“ exekutiert wurde, weil er die Stadt Aachen in militärisch aussichtsloser Lage der amerikanischen Armee kampflos übergeben und damit ein Blutbad in der Bevölkerung verhindern wollte.

2009 hob der Deutsche Bundestag einstimmig die Urteile gegen die sogenannten „Kriegsverräter“ auf.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Kompletter Text siehe: https://de.wikisource.org/wiki/Verordnung_%C3%BCber_das_Sonderstrafrecht_im_Kriege_und_bei_besonderem_Einsatz

(2) Sven Keller, Volksgemeinschaft am Ende: Gesellschaft und Gewalt 1944/45

(3) Siehe Süddeutsche Zeitung https://www.sueddeutsche.de/politik/endphaseverbrechen-der-nationalsozialisten-wer-am-endsieg-zweifelt-wird-gehaengt-1.2463637-2; zu Valentin Schmidt siehe: http://www.historische-eschborn.de/berichte/Hessen/Todesurteil_Valentin_Schmidt/todesurteil_valentin_schmidt.html

(4) Die Zahlen entstammen: https://dewiki.de/Lexikon/Milit%C3%A4rgerichtsbarkeit_(Nationalsozialismus) . Eine offizielle Statistik wurde nur bis zum vierten Quartal 1944 geführt. Dort werden 616 000 Verfahren genannt. Bis zum Kriegsende nehmen die Anklagen und Verurteilungen noch einmal dramatisch zu.

(5) Siehe Frankfurter Rundschau: https://www.fr.de/wissen/simulanten-drueckeberger-11549292.html

(6) Zu den Zahlen siehe: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust; Sven Keller (Anm. 1); Daniel Blatman (Anm. 12)

(7) Daniel Goldhagen, S.389

(8) Goldhagen, S. 411

https://kz-adlerwerke.de/de/orte/kz/todesmarsch.html Eine ausführliche Darstellung des Todesmarsches der Häftlinge der Frankfurter Adlerwerke und dessen Verdrängen nach 1945 findet sich bei: Franz Coy, Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde (ZHG) Band 122 (2017), S. 207–250

Ein beinahe vergessenes Verbrechen: Der Todesmarsch der Häftlinge des KZ Katzbach bei den Adlerwerken von Frankfurt nach Hünfeld in den letzten Märztagen 1945, http://www.vhghessen.de/inhalt/zhg/ZHG_122/Coy_Todesmarsch.pdf

(9) Gedenkstätte Gardelegen: https://gedenkstaette-gardelegen.sachsen-anhalt.de/geschichte/

(10) Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/todesmaersche-der-kz-haeftlinge-das-letzte-kapitel-des-100.html

(11) Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker, S.425 ff. Die Wachmannschaften hätten sich auch auf den ausdrücklichen Befehl des Reichsführers SS Heinrich Himmler stützen können, der in der letzten Kriegsphase ausdrücklich angeordnet hatte, jüdische Häftlinge am Leben zu lassen. Diesem Befehl lag sicher nicht eine plötzlich erwachte Menschenfreundlichkeit zugrunde, sondern das Kalkül, die noch lebenden Jüdinnen und Juden als Faustpfand bei möglichen Verhandlungen mit den Siegermächten zu nutzen. Dennoch hätte er genutzt werden können, um das Töten in den letzten Kriegstagen zu stoppen.

(12) Ein ausführlicher Bericht findet sich in: https://www.sueddeutsche.de/bayern/nazis-in-bayern-die-fuenf-schrecklichen-tage-von-nammering-1.3732473

(13) Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords; zit. nach Deutschlandfunk, Todesmärsche (Anm. 10)

(14) Ebd

(15) Ebd

(16) Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944–1945, zit. nach Deutschlandfunk, a.a.O

(17) So der Holocaust-Überlebende Ralph Giordano in seinem Buch „Die zweite Schuld“

(18) Siehe Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/dossier-nationalsozialismus/39581/der-zusammenbruch-des-dritten-reiches/

(19) Hitler zitiert nach Albert Speer. Ebd.

(20) Eine Auswahl von NS-Kriegsrichtern und ihrer Karriere in der Bundesrepublik Deutschland findet sich bei: https://dewiki.de/Lexikon/Milit%C3%A4rgerichtsbarkeit_(Nationalsozialismus)

(21) BGH, 16. November 1995 – 5 StR 747/94. Der Bundesgerichtshof führte weiter aus: »Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft hatte eine ,Perversion der Rechtsordnung’ bewirkt, wie sie schlimmer kaum vorstellbar war, und die damalige Rechtsprechung ist angesichts exzessiver Verhängung von Todesstrafen nicht zu Unrecht oft als ,Blutjustiz’ bezeichnet worden“. Zuvor hatte allerdings der Bundesgerichtshof 1956 ein Urteil gefällt, „das zur Folge hatte, daß kein einziger der Richter, die während der Nazi-Herrschaft 50.000 Todesurteile gefällte hatten, zur Rechenschaft gezogen wurde.“ (Prof. Dr. Günter Hirsch, ehemaliger Präsident des Bundesgerichtshofs

(22) Zypries zitiert nach Deutsche Welle: https://www.dw.com/de/sp%C3%A4te-rehabilitierung-von-kriegsverr%C3%A4tern/a-4650132

(23) Siehe dazu ebenfalls Deutsche Welle (Anm. 22)

 

Fotonachweise:

Todesurteil wegen „Wehrkraftzersetzung“: Todesurteil Dr. Alois Geiger, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2722177

Opfer der Todesmärsche. Tote in der Isenschnibber Feldscheune nach dem Massaker von Gardelegen: The original uploader was Stefan Kühn at German Wikipedia., Gardelegen Isenschnibber Feldscheune, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12569577

Totenwiese von Nammering: Cpl. Edward Belfer – Diese Datei ist im Bestand der National Archives and Records Administration verfügbar, katalogisiert unter dem National Archives Identifier (NAID) 531343., gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=669713

Mahnmal für die Opfer des Dachauer Todesmarsches: Wzwz, Todesmarsch Dachau 3b, CC0 1.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=61561695

Todesmarsch der Häftlinge des KZ Buchenwald: Mazbln, Crawinkel Gedenktafel, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Crawinkel_Gedenktafel.JPG