Vom Umgang mit Tätern und Opfern

Der Umgang mit den Verbrechen des NS-Regimes steht schon bald im Zeichen des Verdrängens und Vergessens. Während der Große Frieden mit den Tätern beginnt, werden Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer als „Verräter“ diffamiert. Die meisten Opfer werden nicht anerkannt und nicht entschädigt.

Der große Frieden mit den Tätern

Am 9. Januar 1951 erhält der amerikanische Hochkommissar John McCloy Besuch einer hochrangigen Abordnung des Deutschen Bundestages, der u. a. Bundestagspräsident Herrmann Ehlers (CDU), der Abgeordnete Carlo Schmidt (SPD) und der Staatssekretär im Justizministerium Walter Strauß angehören. Ihr Anliegen ist die Freilassung der noch im Gefängnis Landsberg internierten, durch die Alliierten verurteilten Kriegsverbrecher. Es sind keine Mitläufer und untergeordnete Totschläger, die hier einsitzen, sondern Männer, die allesamt eine führende Rolle im nationalsozialistischen Vernichtungsapparat eingenommen haben. Zu ihnen gehören

  • Oswald Pohl, im Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt der SS zuständig für das gesamte System der Konzentrations- und Vernichtungslager
    – Otto Ohlendorf, Leiter der Einsatzgruppe D, die im Kaukasus und auf der Krim 90 000 Zivilistinnen und Zivilisten, vorrangig Jüdinnen und Juden, getötet hat
  • Paul Blobel, Chef des Einsatz- Sonderkommandos 4a, der in der Schlucht von Babyn Jar den Massenmord an 30 000 Jüdinnen und Juden befehligt hat
  • Erich Naumann, unter dessen Befehl in Litauen täglich 500 Juden getötet wurden
  • Dr. Werner Braune, Leiter des Sonderkommandos der Einsatzgruppe D, die unter anderen in Simferapol auf der Krim 10 000 Jüdinnen und Juden getötet hat, damit sie ein „judenfreies Weihnachten“ feiern konnte (1)

An der Schuld der Verurteilten kann kein Zweifel bestehen. Besonders die Einsatzgruppen haben über ihre Verbrechen pedantisch Buch geführt und ihre „Erfolge“ laufend dem Reichssicherheitshauptamt mitgeteilt. So heißt es in drei von hunderten Ereignismeldungen:

Einsatzgruppe C, Ereignismeldung Nr. 150, 2. Januar 1942: Vom 16. November bis 15. Dezember 1941 wurden 17 645 Juden, 2504 Krimtschaken, 824 Zigeuner und 212 Kommunisten erschossen. Simferopol, Jewpatoria, Kertsch und Feodosia judenfrei gemacht.

Einsatzgruppe A, Ereignismeldung vom 16. Januar 1942 aus Riga: 10 600 Juden erschossen

Einsatzgruppe D, Ereignismeldung Nr. 117, 1. bis 15. Oktober 1941: Die von Kommandos neubesetzten Räume wurden judenfrei gemacht. In der Berichtszeit wurden 4891 Juden und 46 Kommunisten exekutiert. Gesamtzahl 40 699. (2)

Die Abordnung des Deutschen Bundestages musste also wissen, für wen sie sich einsetzt.

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Einsatzgruppen erschießen überlebende Frauen und Kinder der Massenexekution des Ghettos Misotsch (Ukraine) im Oktober 1942

Dennoch ist sie überrascht, dass McCloy sich ihrem Ansinnen verweigert. Die fünf Massenmörder werden hingerichtet. Sie sollten die Letzten sein. Denn der große Frieden mit den Tätern hat längst begonnen.

Wie kam es dazu, dass sich angesehene Parlamentarier für NS-Kriegsverbrecher einsetzten?

Als die Alliierten 1945 die Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager befreiten und die Ungeheuerlichkeit der NS-Verbrechen offenkundig wurde, waren sie entschlossen, die Schuldigen vor aller Welt anzuklagen und zu bestrafen. In diese Phase fallen die Hauptkriegsverbrecherprozesse, die „Nürnberger Prozesse“, und deren Nachfolgeprozesse.

Bei den Hauptkriegsverbrecherprozessen ist die Führungsriege des NS-Regimes angeklagt. Bei der Hälfte der Angeklagten wird die Todesstrafe verhängt und auch vollstreckt. Bei den Nachfolgeprozessen sind vor allem Männer angeklagt, die Mordkommandos wie die Einsatzgruppen geführt, Wachmannschaften in Vernichtungslagern befehligt, den Vernichtungskrieg geplant oder als Ärzte Menschenversuche durchgeführt haben. Auch hier werden Todesurteile verhängt, aber häufig nicht vollstreckt. Die Verurteilten können hoffen, dass die Vollstreckung der Urteile weiterhin unterbleibt und sie möglicherweise amnestiert werden.

Etwa ab 1948 wird ein Wandel deutlich. Die Gegensätze zwischen den Siegermächten brechen immer mehr auf und münden in den Kalten Krieg. In der scheinbar unvermeidlichen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus werden die Deutschen nunmehr zu einem potentiellen Bündnispartner, dessen Vergangenheit man nicht ständig ins Zentrum rücken möchte.

Die Deutschen selbst sehen sich in ihrer großen Mehrheit als ungerecht behandeltes Opfer. Sie lehnen die „Entnazifizierung“ ab und fordern zunehmend, einen „Schlussstrich“ zu ziehen, auf weitere Anklagen zu verzichten und „Kriegsverurteilte“ zu amnestieren. Auch die meisten politischen Parteien orientieren sich an der Schlussstrich-Stimmung in der Bevölkerung und befeuern diese teilweise noch.

Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland geht die vorher von den Siegermächten durchgeführte juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen weitgehend auf deutsche Gerichte und Staatsanwaltschaften über. Sie wird zumeist unzureichend durchgeführt, in die Länge gezogen und kommt bald völlig zum Erliegen. Parallel dazu werden mehr und mehr verurteilte Täter amnestiert.

Straffrei im Namen des NS-Staates gemordet? „Ereignisbericht“: Einsatzgruppen in Litauen

Die meisten Angeklagten berufen sich darauf, nach den damals geltenden Gesetzen gehandelt zu haben. Deshalb könne man sie nicht im Nachhinein für ein Verhalten bestrafen, das zum Zeitpunkt der Taten nicht strafbar, sondern vom Staat angeordnet war. Diese Argumentation beinhaltet faktisch einen Freibrief für jegliche Verbrechen, soweit sie im Namen eines Staates auf der Grundlage von Gesetzen begangen werden.

Dem stellten die alliierten Siegermächte bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen die Rechtsposition entgegen, dass Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit immer strafbar sind, also auch dann, wenn ein krimineller Staat sie anordnet. Diese Auffassung liegt dem am 12. Januar 1952 von der UN-Vollversammlung beschlossenen „Abkommen zur Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes“ und damit dem geltenden Völkerrecht zugrunde.

In der Bundesrepublik Deutschland herrschte dagegen lange die Rechtsauffassung vor, NS-Täter könnten nur dann bestraft werden, wenn sie über die Befolgung von Befehlen und NS-Gesetzen hinaus auf eigene Initiative gehandelt oder eine besondere Brutalität gezeigt haben. Auf dieser Grundlage wurden auch schwer belastete Angeklagte freigesprochen oder mit lächerlich geringen Strafen belegt.

Der Euthanasie-Arzt Dr. Kurt Borm zum Beispiel wurde noch 1972 vom 2. Senat des Bundesgerichtshofes vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen, obwohl er nach Überzeugung des Gerichts an der Tötung von mindestens 6652 Menschen mit Lernbehinderung beteiligt war. Dem in einer Beamtenfamilie aufgewachsenen Arzt habe angesichts der Gesetzeslage „das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seines Tuns“ gefehlt. (3)

Stauffenberg und Bonhoeffer – zu Recht hingerichtet?

Anders als den Tätern und Mitläuferinnen und Mitläufern ging es den Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern und ihren Angehörigen.

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Claus Schenck Graf von Stauffenberg

Claus Schenck Graf von Stauffenberg – als „Hochverräter“ zurecht hingerichtet?

Nina Schenck Gräfin von Stauffenberg, die nach dem 20. Juli 1944 in Sippenhaft genommen und in einem Konzentrationslager interniert wurde, wird in der Bundesrepublik jahrelang eine Witwenrente verweigert. Schließlich – so die Begründung der Behörden – sei ihr Mann, der Hitler-Attentäter und Widerstandskämpfer Claus Graf Schenck von Stauffenberg, von Hitlers Volksgerichtshof rechtskräftig wegen „Landes- und Hochverrats“ zum Tode verurteilt worden. (4)

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Hitlers Blutrichter Freisler

Hitlers Blutrichter Freisler – höherer Beamter in der Bundesrepublik Deutschland?

Das Urteil gegen Stauffenberg hatte in einem Schauprozess der Präsident des Volksgerichtshofs Roland Freisler gesprochen. Dessen Witwe, Marion Freisler, erhält als „Kriegsopfer“ ganz selbstverständlich eine Witwenrente. Mehr noch: das bayerische Versorgungsamt spricht ihr einen zusätzlichen Schadensausgleich von monatlich 400 DM zu, weil ihr Mann im Nachkriegsdeutschland weiter „als Rechtsanwalt oder Beamter des höheren Dienstes” hätte tätig sein können. (5)

Hitlers oberster Blutrichter als höherer Beamter in der Bundesrepublik Deutschland? Was heute undenkbar erscheint, war damals vielfach Normalität. Keiner von Hitlers Richtern, die willfährig NS-Gesetze angewandt und Tausende Menschen in den Tod geschickt haben, wird nach dem Ende des NS-Regimes von der bundesdeutschen Justiz deshalb angeklagt oder entlassen. Alle finden ihren Platz im neuen Staat – wie viele andere ehemalige Nazis in Polizei, Militär, Sicherheitsorganen, Wirtschaft und Politik. (6)

Einer dieser Blutrichter ist Manfred Roeder. Oberstkriegsgerichtsrat Roeder, der enge Beziehungen zu Hermann Göring und Gestapo Chef Heinrich Müller unterhielt und wegen seines Fanatismus als „Bluthund Hitlers“ galt, war als Untersuchungsführer und Ankläger mitverantwortlich für mindestens 45 Todesurteile des Reichskriegsgerichts gegen Mitglieder der Widerstandsbewegung Rote Kapelle.

Wenige Wochen vor Kriegsende befahl Adolf Hitler die Hinrichtung aller inhaftierten und noch lebenden Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer der Roten Kapelle und des 20. Juli. Roeder gehörte dem Standgericht der SS an, das den Theologen Dietrich Bonhoeffer zum Tode verurteilte. Bonhoeffer, der der Welt das Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ hinterlassen hat, war führendes Mitglied der „Bekennenden Kirche“. Er wurde am 9. April 1945 von der SS im Konzentrationslager Flossenbürg ermordet.

Bonhoeffer-Statue von Fritz Fleer (1979) an der Hauptkirche St. Petri (Hamburg)

Roeder entgeht unmittelbar nach dem Krieg einer Verurteilung als Kriegsverbrecher. In der britischen Zone wird gegen ihn ein Verfahren wegen „Verbrechen an der Menschheit“ nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 eingeleitet. Das niedersächsische Justizministerium verschleppt das Verfahren und stellt es 1951 ein. Der Abschlussbericht stellt fest, dass die von Roeder geleiteten Verfahren vor dem Reichskriegsgericht nicht zu beanstanden und die Angeklagten zu Recht zu Tode verurteilt worden seien. Auch die Rechtmäßigkeit der von SS-Standgerichten angeordneten Hinrichtungen am 9. April 1945 und damit auch der Ermordung Bonhoeffers wird 1956 vom ersten Strafsenat des Bundesgerichtshofs ausdrücklich bestätigt. (7)

Die Hinterbliebenen des „zu Recht verurteilten Straftäters“ Bonhoeffer erhalten deshalb keine Entschädigung. Anders der mit einer stattlichen Pension ausgestattete Roeder, der erklären konnte: „Ich fühle mich völlig unschuldig. Ich habe als deutscher Richter meine Pflicht getan.“ (8) Die Urteile des Reichsgerichtshofes und der SS-Standgerichte wegen „Kriegsverrats“ haben bis 2009 Bestand und wurden erst dann vom Deutschen Bundestag für ungültig erklärt.

Nach 1945 ist Roeder zunächst für neugegründete neonazistische Parteien aktiv. Ab 1963 lebt er in Glashütten im Taunus. Dort wird er in den Gemeinderat gewählt und steigt zum Ersten Beigeordneten und damit zum Stellvertreter des Bürgermeisters auf. (9)

“Ein Unrechtsstaat wie das Dritte Reich ist überhaupt nicht hochverratsfähig.”

Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt, Ankläger bei den Frankfurter Auschwitz Prozessen (10)

Die meisten Opfer gingen leer aus

1956 verabschiedet der Deutsche Bundestag nach langem Hin und Her ein Gesetz zur Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung. Das Gesetz schließt allerdings die große Mehrheit der Opfer aus. Antragsberechtigt sind nur Verfolgte, die ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland oder Westberlin haben. Damit ist der Großteil der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangenen und die in die Vernichtungslager in den besetzten Ländern verschleppten Menschen von einer Entschädigung ausgeschlossen. Ebenfalls keine Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes und damit auch keine Entschädigung erhalten Kommunistinnen und Kommunisten, die als „Feinde der Freiheit“ gelten, Sintizze und Sinti, Romnja und Roma, „Asoziale“, Homosexuelle, psychisch kranke und zwangssterilisierte Menschen, „rechtskräftig“ verurteilte Widerstandskämpferinnen udn Widerstandskämpfer und deren Angehörige, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure. Für sie alle ist die verweigerte Anerkennung und Entschädigung faktisch die Fortsetzung der Ausgrenzung und Verfolgung mit anderen Mitteln. (11)

Die überfallenen, besetzten und durch die Kriegswirtschaft ausgeraubten Völker im Osten und Südosten Europas erhalten keine Reparationszahlungen. Eine entsprechende Regelung wird einem späteren Friedensvertrag vorbehalten, der allerdings stets vermieden wird und nie zustande kommen sollte. (12)

Wiedergutmachung?

Eine besondere Rolle spielen Entschädigungszahlungen zur „Wiedergutmachung“ der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Sie werden Überlebenden und Angehörigen ermordeter Jüdinnen und Juden zugesprochen. Eine Vereinbarung mit Israel erfolgt nicht aus eigenem Antrieb, sondern widerwillig auf Druck der Westalliierten. Auch hier schließt das Aufenthaltsprinzip die Verfolgten in Osteuropa von einer Entschädigung aus. Es kommt vielfach zu der bedrückenden Situation, dass traumatisierte jüdische Menschen, die dem Tod entronnen sind oder ihre Angehörigen verloren haben, bei deutschen Behörden nun ihr „Deutschsein“ nachweisen und um deren Wohlwollen betteln müssen.

Ein Holocaust Überlebender schreibt über diese Zumutung:

Was tu ich denn hier? Ich sitze nun hier, meine Familie ist ermordet worden, und ich schreibe einen Aufsatz, in dem ich erkläre, dass ich mich immer zum deutschen Volkstum bekannt habe. Bin ich denn verrückt? (13)

Die durch die Bundesrepublik gewährten Entschädigungsleistungen betrugen nie mehr als ein Prozent des Bruttosozialprodukts. Berechnungsgrundlage der Zahlungen waren 5 DM pro Tag KZ-Haft. Bedenkt man die Verluste an Menschenleben durch die NS-Verbrechen, die gesundheitlichen Folgen der Haft, die Bereicherung vieler Deutscher durch „Arisierungen“ oder Zwangsarbeit, stellt dies nicht mehr als ein Almosen dar.

Die Entschädigungen firmierten im allgemeinen Sprachgebrauch, aber auch in offiziellen Dokumenten der Bundesregierung unter dem Namen „Wiedergutmachung“. Viele sehen in dem Begriff, der bis heute von der Bundesregierung verwendet wird, eine Verhöhnung der Opfer. Die unsäglichen Verbrechen, den Tod von Millionen Menschen, den Verlust der Angehörigen, die Zerstörung der Gesundheit, die in der Haft zugefügten Grausamkeiten und die weitgehende Auslöschung jüdischer Lebenswelten in Osteuropa lässt sich durch eine Geldzahlung nicht wieder gut machen. Mit Entschädigung ist vorwiegend ein symbolischer Akt der Reue und Sühne verbunden, mit dem das Leid der Opfer, die eigene Schuld und zugleich die Verpflichtung anerkannt wird, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und eine Wiederholung der Geschehnisse unmöglich zu machen.

Der Begriff „Wiedergutmachung“ hätte sich allein deshalb verboten, weil er ursprünglich aus dem Propagandaarsenal der Nationalsozialisten stammt. Die Beraubung und Enteignung der Juden, die auch als „Arisierung“ verharmlost wurde, wurde von den Nazis als „Wiedergutmachung“ für die Schäden dargestellt, die die „geldgierigen und verschlagenen Juden“ den „ehrlichen Deutschen“ zugefügt hätten. (14)

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Gedenkstätte Yad Vashem

Gedenken für die Ermordeten im Warschauer Ghetto

Bald nach Beginn der Schadensersatzleistungen mehren sich die Stimmen, dass es mit der Wiedergutmachung „an die Juden“ nun genug sei. Rechte Populisten und Neonazis hetzen mit der Behauptung, die bekannt geldgierigen Juden würden sich mit dem Geld der Deutschen eine goldene Nase verdienen. In Wirklichkeit seien nicht die Juden, sondern die Deutschen das eigentliche Opfer. Deshalb müssten die Deutschen sich wehren und ihre Rolle als „Dauerbüßer der Geschichte“ ablegen.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 2016, sind immer noch 41 Prozent der Deutschen der Ansicht, „die Juden würden die deutsche Vergangenheit ausnutzen“. (15)

Immerhin gibt es in den letzten Jahrzehnten eine verstärkte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und deren Aufarbeitung. 2020, nach 75 Jahren, hat der Deutsche Bundestag in einer Entschließung anerkannt, dass niemand zu Recht verfolgt und in einem KZ interniert war. Für viele Opfer kommt diese Rehabilitation allerdings Jahrzehnte zu spät. (16)

Unsere Leseempfehlung:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/entschaedigung-von-holocaustueberlebenden-der-lange-kampf.976.de.html?dram:article_id=456254

Der Artikel gibt einen Überblick über den Verlauf der Entschädigung und bezieht dabei auch die Perspektive der Betroffenen ein.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Siehe dazu: Ralph Giordano, Die zweite Schuld, S.159

(2) Giordano, S.160. Siehe dazu auch den Dokumentenband: Mallmann/Mathäus: Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941: Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion. Band I. In den dort dokumentierten Ereignismeldungen ist auf rund 3000 Schreibmaschinenseiten minutiös festgehalten, wer, wann, wo und auf wessen Befehl hin welche Vergeltungsaktionen durchführte, Partisaninnen und Partisanen tötete oder Jüdinnen und Juden und Kommunistinnen und Kommunisten in Massenexekutionen erschoss.

(3) Die Urteilsschriften der Prozesse gegen Dr. Kurt Borm finden sich in: Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg, B 162/14506.

(4) https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/186870/zwischen-diffamierung-und-anerkennung-zum-umgang-mit-dem-20-juli-1944-in-der-fruehen-bundesrepublik/ 
In der Bundesrepublik Deutschland, die sich nach außen hin des Ansehens der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer bedient, werden diese lange als „Verräter“ gesehen. Regelmäßige Umfragen zum deutschen Widerstand ergeben erstmals 2003(!) ein mehrheitlich positives Bild (s. bpb oben)

(5) Zur Witwenrente für Marion Freisler siehe u.a: https://www.spiegel.de/politik/kleines-zubrot-a-f8948a72-0002-0001-0000-000013512519

(6) Grundlegend dazu: Ingo Müller, Furchtbare Juristen, Knaur 1989

(7) Der Bundesgerichtshof bescheinigte am 19. Juni 1956 dem NS-Standgericht, das Dietrich Bonhoeffer und vier weitere Widerstandskämpfer wegen Hochverrats zum Tode verurteilte, ein rechtlich „einwandfreies Verfahren“. Erst 1995 nannte der Bundesgerichtshof die NS-Justiz eine “Perversion der Rechtsordnung (…) wie sie schlimmer kaum vorstellbar ist”. In diesem Urteil bekannte der Bundesgerichtshof auch seine eigene Schuld “an der insgesamt fehlgeschlagenen Auseinandersetzung mit der NS-Justiz”. https://www.sueddeutsche.de/meinung/justiz-nationalsozialismus-widerstand-1.5319100

(8) zitiert nach Heinrich Grosse: Ankläger von Widerstandskämpfern und Apologet des NS-Regimes nach 1945 – Kriegsgerichtsrat Manfred Roeder. In: Kritische Justiz 38, Heft 1 (2005), S. 47.

(9) Zu Manfred Roeder siehe u.a.: https://www.deutschlandfunkkultur.de/nazi-richter-manfred-roeder-wie-ein-furchtbarer-jurist-zum.1001.de.html?dram:article_id=472678

(10) Bauer nach SZ, Anm. 7

(11) zum aktuellen Stand siehe: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7606

(12) Einen Überblick und viele wichtige Informationen gibt: https://www.zwangsarbeit-archiv.de/zwangsarbeit/index.html Siehe auch: https://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ns-zwangsarbeit/227273/der-lange-weg-zur-entschaedigung

(13) https://www.deutschlandfunkkultur.de/entschaedigung-von-holocaustueberlebenden-der-lange-kampf.976.de.html?dram:article_id=456254; https://www.deutschlandfunkkultur.de/holocaust-wiedergutmachung-schaebiges-spiel-auf-zeit.1079.de.html?dram:article_id=377508

(14) siehe dazu: Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten, S.75

(15) Nach Zahlen der Bundeszentrale für politische Bildung ist der sekundäre Antisemitismus, der den Jüdinnen und Juden eine Mitschuld an ihrer Verfolgung und Ermordung gibt und so die Täter entlasten und Unterstützerinnen und Unterstützer entschuldigen soll, weit verbreitet. So sind 12 Prozent der Deutschen der Ansicht: „Durch ihr Verhalten sind Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig”. Rund ein Viertel der Befragten unterstellt: „Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen”. Und 55 Prozent der Befragten gaben in der 2014 durchgeführten “Mitte-Studie” an: „Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden”. In einer weiteren, 2019 durchgeführten Studie forderte ein Viertel der Befragten: „Es ist Zeit, einen Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit zu ziehen“. https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/322899/antisemitische-einstellungsmuster-in-der-mitte-der-gesellschaft

(16) Siehe dazu: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw07-de-ns-verfolgte-680750. Diese Entschließung bezieht sich auf die letzte rehabilitierte Gruppe, die sog. „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“. Sie bestätigt aber zugleich den Grundsatz, dass jegliche Inhaftierung in Konzentrationslagern gleich aus welchen Gründen unrechtmäßig war.

 

Fotonachweise:

Einsatzgruppen erschießen überlebende Frauen und Kinder der Massenexekution des Ghettos Misotsch (Ukraine) im Oktober 1942: Gustav Hille, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37393911

Straffrei im Namen des NS-Staates gemordet? „Ereignisbericht“: Einsatzgruppen in Litauen: Bundesarchiv, Bild 183-B0716-0005-002 / CC-BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5360412

Claus Schenck Graf von Stauffenberg: Unbekannter Autor, Claus von Stauffenberg (1907-1944), gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=37629759

Hitlers Blutrichter Freisler: Bundesarchiv, Bild 151-39-23 / CC-BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5337799

Bonhoeffer-Statue von Fritz Fleer (1979) an der Hauptkirche St. Petri (Hamburg): David Meisel – eigenes Werk, Dietrich Bonhoeffer, Skulptur an der Hauptkirche Sankt Petri (Hamburg), CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39065833

Gedenken für die Ermordeten im Warschauer Ghetto – Gedenkstätte Yad Vashem: Berthold Werner – eigenes Werk, Yad Vashem BW 2, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5580455