Was aus den Nazis wurde

Sie hatten millionenfach gemordet und Europa und die Welt in Brand gesetzt. Mit der Kapitulation der Wehrmacht war der Traum vom „Tausendjährigen Reich“ vorbei. Was aber geschah nun mit den Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten – insbesondere mit Angehörigen der Sicherheitspolizei, der Einsatzgruppen, der Wehrmacht oder der Verwaltung, die massenhaft gemordet, Morde befohlen oder die Deportationen in die Vernichtungslager organisiert hatten? (1)

Entnazifizierung oder „Siegerjustiz“?

Eine erste Gruppe führender Nationalsozialisten beging Suizid – teils, um sich der Verantwortung zu entziehen, teils, weil alles, woran sie geglaubt hatten, zusammengebrochen war. Eine zweite Gruppe flüchtete aus Deutschland, was nur mit einem Netz von Helferinnen und Helfern und entsprechenden Verbindungen möglich war. Bekannt wurde die „Rattenlinie“, die hochbelastete Nazis nach Südamerika schleuste und unter anderem Unterstützung aus der katholischen Kirche und dem Vatikan erhielt. Einer dritten Gruppe gelang es, die Fronten zu wechseln und ihr technisches, militärisches oder geheimdienstliches Wissen den Siegermächten anzudienen. Eine vierte Gruppe tauchte zunächst unter und wartete die weitere Entwicklung ab.

Die meisten der Nationalsozialsitinnen und Nationalsozialisten, die an den Verbrechen beteiligt waren, sie unterstützten oder davon profitierten, hatten diese Möglichkeiten nicht. Sie richteten sich darauf ein, zur Verantwortung gezogen zu werden, der sie mit der Berufung auf mangelndes Wissen und auf Befehle entgehen wollten. Viele Angehörige dieser Gruppe erklärten sich zu eigentlichen Gegnern des NS-Regimes und der Judenverfolgung. Sie seien „anständig geblieben“ und hätten nur mitgemacht, um „Schlimmeres zu verhüten“. Viele suchten fieberhaft nach Zeugen, die sie „entlasten“ sollten. In dieser Phase wunderten sich die mit der Entnazifizierung betrauten Besatzungssoldaten darüber, dass es plötzlich in Deutschland keine Nazis mehr gab und selbst NSDAP-Mitglieder eigentlich NS-Gegnerinnen und -Gegner waren.

Für die hochbelasteten Täter war es erst einmal wichtig, Zeit zu gewinnen und einer Verurteilung zum Tode oder zumindest der Vollstreckung der Todesstrafe zu entgehen. Viele setzten darauf, dass die erkennbaren Konflikte zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion sich vertiefen und zu einer Konfrontation führen würden, in der auch belastete und verurteilte Deutsche wieder „auf der richtigen Seite“ gebraucht würden.

Tatsächlich unternahmen die Besatzungsmächte in den ersten Jahren nach dem Krieg große Anstrengungen, die Personen, auf die sich das NS-Regime stützte und die an den Verbrechen beteiligt waren, zu identifizieren und zu bestrafen und damit zugleich als politischen Faktor für die Zukunft Deutschlands auszuschalten.

Die Dimension dieser Aufgabe machen einige Zahlen deutlich:

Die NSDAP hatte im April 1945 8,5 Millionen Mitglieder (2). Die vom Nürnberger Tribunal als „verbrecherisch“ charakterisierte SS hatte 1945 rund 600 000 Angehörige (3).

Nach den Schätzungen diverser Historiker*innen waren zwischen 200 000 und 300 000 Deutsche an den Verbrechen des NS-Regimes aktiv beteiligt oder so tief in sie verstrickt, dass Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen, Mord oder Beihilfe zum Mord angemessen gewesen wären. (4) Zu diesem Personenkreis gehören insbesondere die Angehörigen der SS-Totenkopfverbände und der SS-Totenkopfstandarten, die für die Bewachung und Ermordung der Häftlinge in den Konzentrations- und Vernichtungslagern und deren „Vernichtung durch Arbeit“ zuständig waren und weiteres Wachpersonal. Die Gestapo mit rund 30 000 Beamten konnte vielfach auf die Dienste von weiteren Polizeistellen zurückgreifen. (5) Die Zentrale des NS-Terrors, das Reichssicherheitshauptamt, hatte rund 3000 Mitarbeitender. (6) Dazu kommen die Mordkommandos der Einsatzgruppen, Teile der Wehrmacht, KZ-Ärzte, Euthanasieärzte, Kriegsrichter und Staatsanwälte, Schreibtischtäter, die die Identifizierung, Internierung und Deportation der europäischen Jüdinnen und Juden und anderer Ermordeter organisiert haben sowie eine große Zahl von Wirtschaftsverbrechern, die sich an der Enteignung der jüdischen Deutschen und der Sklavenarbeit von KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern bereichert haben.

Insgesamt rund 250 000 Verdächtige wurden von den Alliierten in den Westzonen interniert. Mehr als 50 000 Belastete wurden vor Spruchkammern gestellt. Rund 6000 Beschuldigte wurden wegen Verbrechen in den besetzten Gebieten ausgeliefert, rund 8000 Personen wurden von alliierten oder deutschen Gerichten in den Westzonen verurteilt, davon 668 zu Tode. (7)

Allerdings bahnte sich durch den heraufziehenden Kalten Krieg eine Wende an. Nur wenige Todesurteile wurden vollstreckt. Verfahren wurden hinausgezögert und endeten später mit lächerlich geringen Strafen.

Die Angehörigen der Führungsspitze der NSDAP, der SS und der Sicherheitspolizei – vom stellvertretenden Gauleiter, Kriminaldirektor und Standartenführer an aufwärts – wurden im Durchschnitt zu 4000 Mark Geldstrafe bzw. zwei Jahren Haft verurteilt, auf die die Internierungszeit angerechnet wurde. (8)

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Einsatzgruppen in Aktion: polnische Frauen jüdischer Herkunft werden zur Exekution in einen Wald geführt.

Die Morde bleiben fast immer ungesühnt. Die meisten Täter bleiben straffrei oder erhalten unfassbar geringe Strafen und werden bald begnadigt.

Dadurch drehte sich auch die Stimmung in der Bevölkerung. War diese nach 1945 aufgrund der Schreckensbilder aus den Vernichtungslagern mehrheitlich noch für eine Bestrafung der Kriegsverbrecher, schienen nun die milden Urteile zu belegen, dass die Verbrechen weit übertrieben dargestellt und nicht zu beweisen waren. Nach Gründung der Bundesrepublik kam es zu Kampagnen, nicht nur gegen die inzwischen eingestellte Entnazifizierung, sondern darüber hinaus allgemein gegen die Strafverfolgung von NS-Verbrechen, die als „Siegerjustiz“ und „moderne Hexenjagd“ diffamiert wurde. Mehr und mehr galten die nationalsozialistischen Verbrechen als normales Kriegsgeschehen, was auch in der allmählichen Ersetzung des Begriffs „Kriegsverbrecher“ durch „Kriegsverurteilte“ zum Ausdruck kam. Mehr und mehr verstanden sich ehemalige Nazis als normaler Bestandteil der Nachkriegsgesellschaft, dem alle Wege offenstanden.

Es folgten die Amnestiegesetze von 1949 und 1954, mit denen die meisten der von deutschen Gerichten verurteilten NS-Täter begnadigt wurden. Durch den 1951 nachgeschobenen Grundgesetz-Artikel 131 wurde nahezu allen Beamten, die von den Westmächten aus dem Öffentlichen Dienst entfernt worden waren, das Recht eingeräumt, auf ihre alten Positionen zurückzukehren. Dieses Recht wurde umfassend genutzt.

In den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland war die Verfolgung von NS-Verbrechen faktisch eingestellt. Kriegsverbrecher und schwer belastete Schreibtischtäter konnten sicher sein, nicht belangt zu werden. Dasselbe galt für ehemalige Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten, die Aufnahme im Öffentlichen Dienst gefunden hatten – zumindest so lange, wie sie die demokratische Staatsordnung nicht offen und öffentlich in Frage stellten und nicht für neonazistische Organisationen tätig wurden. Erst mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess, der Einrichtung der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, den Frankfurter Auschwitz-Prozessen und dem Prozess gegen den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann in Jerusalem wurde die Verfolgung der NS-Verbrechen wieder zum Thema und zur realen Bedrohung für die Täter.

Diese Bedrohung blieb für die Täter durch die Verlängerung und anschließende Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord in den Jahren 1965 und 1969 durch den Deutschen Bundestag bestehen. Allerdings verabschiedete der Bundestag 1968 fast unbemerkt ein Gesetz zur Verjährung der Beihilfe zum Mord, so dass die Schreibtischtäter insbesondere aus dem Reichssicherheitshauptamt nicht mehr belangt werden konnten. (9)

Kollektive Unschuld? Der Weg von NS-Tätern in die neue Republik

Wir illustrieren diesen Weg anhand der Biografien einiger NS-Täter. Die beschriebenen Personen sind exemplarisch. Sie stehen häufig für Hunderte, manchmal Tausende, die in den Vernichtungslagern oder an den Schreibtischen die Verbrechen begangen, befohlen, geplant und organisiert oder später den Tätern geholfen haben, sich der Verantwortung zu entziehen. Die Biographien sind zugleich ein Spiegelbild des Umgangs mit den Tätern und deren Helferinnen und Helfern in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland. (10)

Josef Mengele und Aribert Heim

Der KZ-Arzt Josef Mengele, der im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Hunderte von bestialischen Menschenversuchen durchgeführt hat, gehört zu den NS-Verbrechern, die sich einer Verhaftung durch die Flucht über die „Rattenlinie“ nach Südamerika entzogen haben. Er lebte jahrelang unbehelligt in Argentinien. Erst 1958 wird von der Freiburger Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelt und ein Haftbefehl ausgestellt. Mengele taucht mit Hilfe diverser „Kameradschaften“ unter und kann sich mit deren Hilfe bis zu seinem Tod 1977 einer Verhaftung entziehen. (11)
Aribert Heim, der „Schlächter von Mauthausen“, hat wie Mengele grauenhafte Menschenversuche an Häftlingen durchgeführt. Er tötete Häftlinge durch die Injektion von Benzin oder entnahm ihnen ohne vorherige Betäubung Organe. Er wurde am 22. Dezember 1947 amnestiert und galt bei der Spruchkammer Neckarsulm als „entnazifiziert“.
Trotz der Hinweise auf seine Verbrechen kann der österreichische Staatsbürger 15 Jahre unbehelligt in der Bundesrepublik Deutschland leben und als Arzt arbeiten. 1956 wird er deutscher Staatsbürger. Nachdem 1962 ein Haftbefehl gegen ihn erlassen wird, taucht er ab. Als einer der weltweit meistgesuchten NS-Verbrecher kann er sich bis zu seinem Tod 1992 30 Jahre lang einer Verhaftung entziehen. Es ist nicht vorstellbar, dass dies ohne die Unterstützung weiterhin bestehender Nazi-Netzwerke möglich war. (12)

Werner Best

Dr. Werner Bests Karriere führt ihn ins Reichsicherheitshauptamt, wo er im NS-Sicherheitsapparat rasch zum drittmächtigsten Mann nach dem Reichsführer SS Heinrich Himmler und RSHA-Chef Reinhard Heydrich aufsteigt.

Best im Gewahrsam der Alliierten – Kopenhagen 1945

In den folgenden Jahren ist Best an den Planungen des Reichssicherheitshauptamtes für ein Großdeutschland beteiligt, das durch Vertreibung, Vernichtung und Versklavung osteuropäischer Völker entstehen soll. Er schließt dabei nicht aus, dass die Deutschen „ganze Völker dieses Großraums in ihrer gesamten lebenden Substanz vernichten bzw. sie aus dem beherrschten Großraum“ (13) entfernen. An anderer Stelle schreibt er: „Vernichtung und Verdrängung fremden Volkstums widerspricht nach geschichtlichen Erfahrungen den Lebensgesetzen nicht, wenn sie vollständig geschieht“. (14) Zusammen mit Heydrich organisiert er die Einsatzgruppen in Polen, die bald mit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten beginnen. Er schafft in Frankreich mit einer „Judenverordnung“ und einem „Judenregister“ die Grundlage für die Deportation der französischen Jüdinnen und Juden. Nach dem Krieg wird er in Dänemark, wo er ab 1942 Reichsbevollmächtigter war, als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt, dann begnadigt, auf Drängen der Bundesregierung nach Deutschland ausgeliefert und nach kurzer Zeit amnestiert.

Nach langen verlorenen Jahren ermittelt ab 1963 die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes, der Terrorzentrale des NS-Regimes, in der die Fäden zusammenliefen. Belegt durch umfangreiches Dokumentenmaterial werden Anklagen gegen 300 Mitarbeiter – darunter Werner Best – zusammengestellt. Die Anklagepunkte lauten: Beteiligung an der „Endlösung“; Organisation der Einsatzgruppen; Beteiligung an Massenexekutionen.

Zu einem Prozess kommt es nicht. Der Deutsche Bundestag verabschiedet im Oktober 1968 eine Neufassung des Paragraphen 50 Absatz 2, wonach Beihilfe zum Mord nach 15 Jahren verjährt. Dadurch bleiben die Planer und Organisatoren des Terrors, der Massenmorde und der „Endlösung“ straffrei. (15)

Am 10. Februar 1972 erhebt die Berliner Staatsanwaltschaft eine über den Vorwurf der Beihilfe hinausgehende Mordanklage gegen Best wegen der „gemeinschaftlich mit Hitler, Göring, Himmler, Heydrich und Müller“ begangenen Ermordung von mindestens 8723 Menschen in Polen. Jedoch wird das Hauptverfahren mit Verweis auf Bests Gesundheit nicht eröffnet. Ende der 1970er-Jahre stellt das Landgericht Duisburg Bests dauerhafte Verhandlungsunfähigkeit fest und stellt das Verfahren ein.

Bests Taten bleiben ungesühnt. Er nimmt für sich ganz selbstverständlich Rechte in Anspruch, die Häftlingen in den Konzentrationslagern auch durch seinen persönlichen Einsatz verweigert wurden. Er bleibt bis zu seinem Tod bei der Überzeugung, richtig gehandelt zu haben. Durch Beziehungen, Netzwerke und rechte Gönner kommt er nach dem Krieg zu persönlichem Wohlstand. Auch darin gleicht er vielen Angehörigen der ehemaligen NS-Eliten. (16)

Heinz Reinefarth

Heinz Reinefarth, der „Henker von Warschau“, befehligte als SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS und der Polizei die Niederschlagung des Warschauer Aufstandes. Der Aufstand gegen die NS-Besatzer wurde mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Dabei wandte sich der Terror besonders gegen Zivilistinnen und Zivilisten, von denen rund 200 000 ums Leben kamen. Zugleich wurde Warschau völlig zerstört.

Reinefarth wurde 1948 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Im Entnazifizierungsverfahren sprach ihn das Spruchgericht Hamburg-Bergedorf 1949 von jeder Schuld frei. Das frühe NSDAP- und SS-Mitglied Reinefarth (Beitritt 1932) sei in Wirklichkeit ein politischer Gegner Hitlers gewesen, der „wiederholt Leben und Stellung aufs Spiel gesetzt“ habe. (17)

Derart entlastet kann Reinefahrt wieder seinem Beruf als Rechtsanwalt nachgehen. Er kandidiert für das Amt des Bürgermeisters der Stadt Westerland/Sylt, das er von 1951 bis 1964 innehat und wird 1958 Abgeordneter im Landtag von Schleswig-Holstein. Nach Presseberichten über seine Vergangenheit und erneuten Ermittlungen muss er sich von seinen Ämtern zurückziehen. Die Ermittlungen werden schließlich ohne Anklage eingestellt.

Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später, am 31. Juli 2014 wird anlässlich des 70. Jahrestags des Warschauer Aufstandes vor dem Westerländer Rathaus eine Gedenktafel angebracht, die mit den Sätzen endet:

Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1963 Bürgermeister von Westerland, war als Kommandeur einer Kampfgruppe maßgeblich mitverantwortlich für dieses Verbrechen. Beschämt verneigen wir uns vor den Opfern des Warschauer Aufstandes und hoffen auf Versöhnung. (18)

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Der Warschauer Aufstand wurde niedergeschlagen, 1944

Franz Josef Huber

Der SS-General Franz Josef Huber wird 1938 nach dem „Anschluss Österreichs“ an das Deutsche Reich nach Wien versetzt und dort Gestapo-Chef. Als Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ ist er verantwortlich für die Deportation zehntausender Menschen, die in den Vernichtungslagern den Tod finden.

Obwohl seine Vergangenheit dem Bundesnachrichtendienst (BND) bekannt ist, wird Huber von der Behörde angeworben. Der BND erklärt dies später damit, dass man zu dieser Zeit „im aufkommenden Kalten Krieg natürlich vor allen Dingen stramme Antikommunisten gesucht hat und die hat man leider allzu oft auch in früheren Nationalsozialisten gesucht und gefunden.” (19)

Huber, der auch US-Geheimdiensten sein Wissen und seine SS-Netzwerke angedient hat, sollte eigentlich als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden. Dies geschieht aus nicht benannten, aber offensichtlichen Gründen nicht. Stattdessen kann er unbehelligt bis zu seinem Tod 1975 in München leben. Er benötigt dazu nicht einmal einen Tarnnamen. Erst im April 2021 werden durch einen Bericht des Bayerischen Rundfunks die Vorgänge einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Hier der Bericht:

Report München extra: Eichmanns geheimer Komplize, Video:
https://www.br.de/fernsehen/das-erste/sendungen/report-muenchen/eichmann-100.html

Dass Franz Josef Huber kein Einzelfall ist, sondern der BND und sein Vorläufer, die Organisation Gehlen, wissentlich eine Vielzahl schwerbelasteter NS-Täter aufgenommen haben, belegt die Untersuchung einer 2011 vom BND bestellten Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes von 1945 bis 1968:

Franz Marmon

Der SS-Offizier Franz Marmon ist seit Oktober 1944 Leiter der Staatspolizeistelle Kassel, zu deren Zuständigkeitsbereich nicht nur Kassel, sondern weite Bereiche Mittel- und Osthessens sowie Teile Thüringens mit insgesamt über 2 Millionen Menschen gehören. Er ist zugleich Vorgesetzter des Leiters der „Arbeitserziehungslagers“ Breitenau.

Die Staatspolizei Kassel ist für eine Vielzahl von Verbrechen verantwortlich, darunter Deportationen jüdischer Deutscher in die Vernichtungslager. Kurz vor dem Einmarsch der US-Truppen werden auf Befehl Marmons noch eine Reihe von Endphasenverbrechen durch die Gestapo und die SS begangen. Zu diesen Verbrechen gehören die Erschießung von 28 Häftlingen des Arbeitserziehungslagers Breitenau am 29. März 1945 am Fuldaberg, die Ermordung von 12 Gefangenen des Zuchthauses Wehlheiden am 30. März 1945 sowie von 78 italienischen Zivilarbeitern nahe dem Bahnhof Wilhelmshöhe. Häftlinge von Konzentrations- und Vernichtungslagern und anderen Haftanstalten wurden in den letzten Tagen des NS-Regimes ermordet, um Zeugen zu beseitigen, den Holocaust zu Ende zu bringen oder um vor der nahenden Niederlage noch Rache an NS-Gegnern zu nehmen. Die italienischen Zivilarbeiter wurden erschossen, weil sie nach der Plünderung eines Lebensmitteltransports durch die deutsche Bevölkerung von den hinterlassenen Resten gegessen hatten.

Marmon taucht nach Kriegsende unter. Er wird 1950 verhaftet und angeklagt. Marmon beruft sich darauf, lediglich Befehle befolgt zu haben. Er wird 1952 vom Landgericht Kassel zu einer Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Untersuchungshaft wird darauf angerechnet und die Reststrafe erlassen.

Die Mitarbeiter der Staatspolizei Kassel kommen bis auf wenige Ausnahmen ungestraft davon. Gerichte glauben ihnen, sie hätten bei der „Ostverschickung“ der jüdischen Deutschen nicht gewusst, was diesen bevorsteht. Die meisten Mitarbeiter der Kasseler NS-Staatspolizeistelle können in der Bundesrepublik wieder als Polizist arbeiten. (20)

Hermine Braunsteiner und Ilse Koch

Hermine Braunsteiner gehört wie llse Koch, die „Hexe von Buchenwald“ zu den Exzesstäterinnen und -tätern, die sich nicht damit begnügten, Jüdinnen mit ihren Neugeborenen vorschriftsmäßig in die Gaskammern zu bringen, sondern etwa, um die Mütter zusätzlich zu quälen, vorher das Kind vor ihren Augen gegen eine Steinmauer warfen.

In den Prozessen gegen NS-Täter konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit vielfach auf die „KZ-Monster“. Immer mehr traten Sensationsmeldungen in den Vordergrund – wie etwa die Frage, ob die „Hexe von Buchenwald“ tatsächlich aus der Haut von Häftlingen einen Lampenschirm hat anfertigen lassen.

Für eine substantielle Aufarbeitung war dies fatal. Aufgrund weniger, aber öffentlich ausgeschlachteter Prozesse entstand der Eindruck, die Justiz in der Bundesrepublik Deutschland würde tatsächlich in großem Umfang NS-Verbrechen aufklären und die Täter bestrafen. Vor allem aber verdrängten die im Fokus stehenden „Exzesstaten“ die „normalen“ und alltäglichen, aber weniger spektakulären Massenmorde aus der öffentlichen Wahrnehmung. Und schließlich schienen die „Monster“ die Schutzbehauptung zu bestätigen, die Täter seien Psychopathen, Sadisten und „asoziale Elemente“, aber doch keine normalen Deutsche gewesen. (21)

Braunsteiner, die im KZ Ravensbrück als die brutalste Aufseherin galt, wurde nach 1945 kurzzeitig interniert und 1950 wieder freigelassen. 1981 wurde sie im Majdanek-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt und 1996 begnadigt.

Hans-Joachim Rehse

Das Todesurteil des Volksgerichtshofs gegen den angeklagten katholischen Priester Dr. Max-Josef Metzger sei zurecht verhängt worden, weil dessen wehrkraftzersetzende Behauptungen des „die für die Kriegsführung bereitgestellten und notwendigen Volkskräfte“ schwächen und bei vielen Menschen

Zweifel an den charakterlichen, politischen und militärischen Fähigkeiten der führenden Personen des Staates und der Wehrmacht wecken oder verstärken und die Siegeszuversicht und den Willen zum weiteren Durchhalten sinken lassen können. (22)

Nein, dieses Zitat stammt nicht aus dem Todesurteil vom 14. Oktober 1943, an dem der Richter am Volksgerichtshof Hans-Joachim Rehse beteiligt war. Es stammt aus einem Urteil des Berliner Schwurgerichts aus dem Jahr 1968, in dem unter Übernahme der Sichtweise des NS-Staates bestätigt wird, dass das Todesurteil von 1943 rechtmäßig war. Der Volksgerichtshof habe im Falle des Dr. Metzger und sechs weiteren zur Verhandlung stehenden Todesurteilen nicht gegen prozessuale Normen verstoßen. Er habe sich stattdessen in dem gesetzlich vorgegebenen strafrechtlichen Rahmen bewegt, nach dem Äußerungen folgender Art mit dem Tode zu bestrafen seien:

Der Krieg sei verloren. Deutschland oder der Führer hätten den Krieg sinnlos und frivol vom Zaun gebrochen und müssten ihn verlieren. Die NSDAP solle oder werde abtreten, der Führer sei krank, unfähig, ein Menschenschlächter usw. (23)

Eines von mehr als 5000 Todesurteiles des Volksgerichtshofs: Urteil gegen den Arzt Dr. Alois Geiger wegen „Wehrkraftzersetzung“

Rehse, dessen Unterschrift unter 230 Todesurteilen des Volksgerichtshofs steht, wurde freigesprochen. Er habe sich an die vorgegebenen Gesetze gehalten und sich deshalb nichts zuschulden kommen lassen.

Er steht dabei nicht alleine. Keiner der Richter am Volksgerichtshof wurde von bundesdeutschen Gerichten verurteilt.

Der Deutsche Bundestag stellte am 25. Januar 1985 mit einer einstimmig verabschiedeten Entschließung fest, dass der Volksgerichtshof ein Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft gewesen sei und deshalb dessen Entscheidungen keine Rechtswirksamkeit zukomme. Die Entschließung kam allerdings viele Jahre zu spät, um Hitlers Richter unterm Hakenkreuz noch belangen zu können.

Johann-Josef Schwarz und Ludwig Ruckdeschel

Belangt wurden andere, weniger hochgestellte Richter. Am 19. Dezember 1948 verhandelte das Landgericht Weiden gegen den ehemaligen Regensburger Landgerichtsdirektor Johann-Josef Schwarz wegen Mordes. Schwarz hatte als Vorsitzender eines Standgerichts den Domprediger Dr. Johann Maier wegen „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt. Der Geistliche hatte wenige Tage vor Kriegsende versucht, eine aufgebrachte Menge, aus der heraus die kampflose Übergabe der Stadt an die heranrückende amerikanische Armee gefordert wurde, zu beruhigen: „Jede Obrigkeit ist von Gott, wir sind daher jeder Obrigkeit untertan, wir dürfen daher keinen Aufruhr machen.“ Stattdessen solle man vor die Obrigkeit treten und die Übergabe erbitten. (24)

Maier wurde an Ort und Stelle verhaftet. Der Gauleiter der bayerischen Ostmark, Ludwig Ruckdeschel, befahl dem Regensburger Kreisleiter der NSDAP, den Geistlichen sofort öffentlich zu erhängen. Der Kreisleiter wollte dies allerdings wenige Tage vor dem absehbaren Ende des „tausendjährigen Reiches“ nicht ohne Rückversicherung tun und beauftragte deshalb den Regensburger Landgerichtsdirektor Schwarz mit der Leitung eines sofort einzuberufenden Standgerichts, das noch am selben Tag die Todesstrafe verhängte. Die Verhandlung wurde mehrmals von dem SS-Obergruppenführer Paul Hennicke mit der Forderung unterbrochen, jetzt endlich den Geistlichen zu verurteilen und zu hängen, damit er dem Gauleiter Vollzug melden könne.

Das Weidener Landgericht hatte nun über die Rechtmäßigkeit des Vorgangs zu urteilen. Es stellte zunächst fest, dass die Kriegssonderstrafrechtsverordnung und die Standgerichtsordnung des NS-Regimes fraglos legitim gewesen seien, so dass nur noch zu prüfen sei, ob die NS-Gesetze auch korrekt angewandt wurden.

Dies verneinte das Weidener Gericht. In den letzten Aprilwochen 1945 habe es weder in Regensburg, das zwei Tage nach der Hinrichtung Maiers kampflos übergeben wurde, noch allgemein in Deutschland einen fortbestehenden Wehrwillen gegeben. Wenn aber kein Wehrwille mehr vorhanden war, konnte er auch nicht zersetzt werden. Insofern habe es sich um ein Fehlurteil gehandelt. Dass Schwarz „die notwendige Rechtsfolge“ des nicht mehr vorhandenen Wehrwillens nicht erkannt habe, sei indes keine bewusste Rechtsbeugung, sondern dem „seelischen Ausnahmezustand“ deutscher Beamter in den letzten Kriegstagen geschuldet und bleibe deshalb straffrei.

Schwarz wurde letztlich doch zu 5 Jahren Haft verurteilt, weil er die Beisitzer des Standgerichts unzureichend belehrt und nicht auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht hat, den Fall einem ordentlichen Gericht zu übergeben.

Der eigentliche Drahtzieher, Gauleiter Ruckdeschel, wurde zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt. Mord mochte das Gericht nicht erkennen, da Ruckdeschel möglicherweise noch an eine Rettung Deutschlands in letzter Sekunde glaubte und deshalb nicht von niedrigen Beweggründen ausgegangen werden könne. Ruckdeschel wurde 1952 vorzeitig aus der Haft entlassen und fand danach eine gut dotierte Stelle als Gästeführer für prominente Besucher bei Volkswagen in Wolfsburg.

Das Nürnberger Oberlandesgericht bestätigte das Urteil des Weidener Landgerichts, das über Jahrzehnte richtungsweisend war.

Dr. Albert Ganzenmüller

Auch außerhalb des Reichssicherheitshauptamtes gab es Zehntausende von Schreibtischtätern, ohne deren Zuarbeit die Massenmorde und der Holocaust nicht möglich gewesen wären. Zu ihnen gehören Polizeidienststellen, Mitarbeiter von Standes- und Jugendämtern oder Ärzte, die halfen, jüdische Deutsche, Sinti und Roma, sogenannte „Asoziale“ oder Menschen mit Behinderung zu identifizieren, zu registrieren und zu deportieren.

Zu Hitlers wichtigen und willigen Helfern gehört die Deutsche Reichsbahn, die über Jahre Menschen in überfüllten Viehwaggons zu den Vernichtungslagern gefahren und dort pünktlich an den Selektionsrampen abgeliefert hat. 1970 beantragte die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, ein Verfahren gegen den ehemaligen stellvertretenden Generaldirektor der Reichsbahn, Dr. Albert Ganzenmüller, zu eröffnen. Ganzenmüller habe zur „‚Endlösung‘ mit vorsätzlich und aus niederen Beweggründen, zum Teil auch grausam begangenen Morden mehrerer Millionen Juden… wissentlich beigetragen“. (25)

Das Gericht lehnte wegen nicht ausreichender Beweise die Eröffnung eines Verfahrens ab. Ganzenmüller blieb – wie alle anderen Schreibtischtäter – unbehelligt.

Hans Globke

Hans Globke unterscheidet sich wie Ganzenmüller von den dargestellten Kriegsverbrechern. Er hat nicht persönlich an den Morden in den besetzten Gebieten und den Konzentrations- und Vernichtungslagern teilgenommen. Er gehörte zu denen, die vom Schreibtisch aus dazu beitrugen, die Juden zu entrechten und die Voraussetzungen für ihre Deportation und Ermordung zu schaffen. Er war eines der vielen Rädchen, die ineinandergreifen mussten, um in kürzester Zeit mehr als 6 Millionen Menschen „rassisch“ zu identifizieren, zu registrieren, zu internieren, zu deportieren und systematisch zu töten.

Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935

Globke war zusammen mit dem SS-General Wilhelm Stuckart Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassengesetze. Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ sowie das „Reichsbürgergesetz“ stellte Ehen ebenso wie außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden als „Rassenschande“ oder auch „Rassenverrat“ unter Strafe. Es umfasste ebenso Sinti und Sintizze und Romnja und Roma, Schwarze Menschen und von ihnen gezeugte Kinder. Die Reichsbürgergesetze erklärten die jüdischen Deutschen zu Bürgern zweiter Klasse und schlossen sie von einer Reihe politischer und ziviler Rechte aus. Die von Hans Globke und Wilhelm Stuckart verfassten „Erläuterungen“ waren Anleitungen zum konkreten Umgang mit zunächst allgemein formulierten Texten und Verordnungen mit dem Ziel, die Nürnberger Rassegesetze praxistauglich zu machen.

Globke verfasste ebenfalls das Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 5. Januar 1938. Danach waren Jüdinnen und Juden, aus deren Namen nicht eindeutig eine jüdische Herkunft ersichtlich war, verpflichtet, als zweiten Vornamen Sara oder Israel anzunehmen und in ihre Ausweise eintragen zu lassen. Dies erleichterte die Identifizierung von Juden für die Deportationen in die Vernichtungslager erheblich.

Globke gab nach dem Krieg bei der Entnazifizierung an, im Widerstand gewesen zu sein und berief sich dabei auf Kontakte zu Widerstandskreisen. Er habe mitgemacht, „um Schlimmeres zu verhindern“. Er wurde als „entlastet“ eingestuft.

Globke konnte so seine Beamtenkarriere fortsetzen. 1953 wurde er von Konrad Adenauer zum Chef des Bundeskanzleramtes ernannt und stieg dadurch zu einem der mächtigsten Männer in der jungen Bundesrepublik Deutschland auf. Zuständig war er u.a. für die Personalpolitik, den BND und den Verfassungsschutz. (26)

Hans Filbinger

Das NSDAP-Mitglied Hans Filbinger (Eintritt 1937) wird nach dem Krieg als Rechtsanwalt tätig. Seine politische Karriere führt ihn 1966 in das Amt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. 1978 wird bekannt, dass Filbinger während der NS-Zeit als Marinerichter tätig und an zahlreichen Anklagen und Verurteilungen beteiligt war – darunter das Todesurteil gegen den desertierten Matrosen Walter Gröger, das Filbinger beantragte und vollstrecken ließ. Filbinger rechtfertigte sich damit, an Weisungen gebunden gewesen zu sein. Sein berühmt gewordener Satz „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“ wurde weithin als Beleg seiner Unbelehrbarkeit und zugleich als Rechtfertigung der NS-Justizmorde verstanden. Filbinger wurde politisch vollends unhaltbar, als sich herausstellte, dass er entgegen seinen Beteuerungen drei weitere von ihm „vergessene“ Todesurteile in der Endphase des Krieges verhängt hat.

Filbinger sah sich bis zu seinem Lebensende als Opfer einer Rufmordkampagne. Bei seinem Begräbnis kam es zu einem erneuten Skandal, als der amtierende Ministerpräsident Günther Oettinger Filbinger zum „Gegner des NS-Regimes“ erklärte. Nach vielfältigen öffentlichen Protesten und einer Intervention von Bundeskanzlerin Merkel musste Oettinger seine Behauptungen zurückziehen und sich dafür entschuldigen. (27)

Die IG-Farben und Josef Neckermann

Bei den Nachfolgeprozessen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse mussten sich die Direktoren des IG-Farben Konzerns, der Schwerindustrielle Alfred Krupp und der Unternehmer Friedrich Flick für den Einsatz von KZ-Häftlingen und entrechteten Zwangsarbeitern sowie die Aneignung jüdischen Eigentums in großem Stil verantworten. Dem IG-Farben Konzern etwa, der rund um das Vernichtungslager Auschwitz riesige Produktionsstätten errichtete, warf die Anklage folgenden Umgang mit den Häftlingen vor:

Wenn diese menschlichen Werkzeuge so ausgelaugt waren, dass sie für die ‚Farben‘ nutzlos wurden, schickte man sie als Abfall ins Hauptlager Auschwitz zurück, um mit dem übrigen menschlichen Abfall in die Gaskammern von Birkenau verbracht zu werden. ‚Farben‘ besorgte sogar das Gas, das für diese Zwecke benutzt wurde. Und auch das Methanol, das nötig war, um die Leichen zu verbrennen, kam von Farben. (28)

Die angeklagten Direktoren der IG-Farben werden wie Alfred Krupp und Friedrich Flick und viele andere „Wirtschaftsführer“ nur zu geringen Strafen verurteilt und bald amnestiert.

Der Einsatz von Häftlingen und Zwangsarbeitern unter unmenschlichen Bedingungen und die Bereicherung an jüdischem Eigentum war Alltag. Oft spielen sie sich nicht auf der großen Bühne, sondern eher im Verborgenen ab.

Der Unternehmer Josef Neckermann etwa, Mitglied der SA-Reiterstaffel und der NSDAP und dadurch gut vernetzt, übernimmt zwischen 1935 und 1937 drei jüdische Textilunternehmen. 1938 „arisiert“ er den Textilbetrieb des jüdischen Unternehmers Karl Amson Joel. Er erwirbt das damals drittgrößte Versandhaus im Deutschen Reich zu einem Spottpreis. Joel erhält von dem vereinbarten Kaufpreis letztlich nichts, weil er mit seiner Familie flüchten muss.

Neckermann steigt im NS-Staat auf. Er gehört zu den Auserwählten, die zu Hitlers Geburtstag eingeladen werden. Sein Unternehmen erhält den lukrativen Auftrag, Kleidung für die Wehrmacht zu liefern. Es profitiert dabei zusätzlich von den jüdischen Zwangsarbeiterinnen im Ghetto von Bialystok, die Kleidungsstoffe verschleppter und ermordeter Juden für die Wehrmacht umnähen.

Nach 1945 hält ihn das Verbot jeglicher wirtschaftlicher Tätigkeit durch die Alliierten nur kurz auf. Nach der Währungsreform nutzt der bei der Entnazifizierung als „Mitläufer“ eingestufte Geburtstagsgast Hitlers die im Dritten Reich erworbene Basis und baut erneut ein Handelsimperium auf. Joel muss eine geringe Abfindung in einem langwierigen Prozess gegen Neckermann erstreiten.

In der Bundesrepublik gilt Neckermann als Inkarnation des Wirtschaftswunders und zugleich als Vorzeigesportler, der als Dressurreiter mehrere olympische Medaillen gewinnt. Das Große Bundesverdienstkreuz bleibt nicht aus. Sein Portrait ziert Briefmarken der Deutschen Bundespost.

Neckermanns NS-Vergangenheit und die zweifelhafte Aneignung seines Reichtums wäre wie bei vielen anderen nie wieder zum Thema geworden, wenn der Enkel des Karl Amson Joel nicht ausgerechnet der Sänger und Songwriter Billy Joel wäre, der seine Popularität nutzt, um die Enteignung seiner aus Deutschland vertriebenen Familie und die Ermordung seines Großonkels Leon in Auschwitz öffentlich zu machen. (29)

Hans-Ulrich Rudel und Hermann Neubauer

Der Kampfflieger Hans-Ulrich Rudel war der höchstdekorierte Soldat der Wehrmacht. Rudel setzte sich 1948 vorsorglich über die „Rattenlinie“ nach Argentinien ab. Dort gründete er das „Kameradenwerk“, eine Hilfseinrichtung, die einer Reihe von NS-Kriegsverbrechern zur Flucht verhalf. Rudel half u.a. dem KZ-Arzt Josef Mengele, unterzutauchen und sich der Verantwortung für seine monströsen Verbrechen zu entziehen. Rudel, der sich in der Bundesrepublik Deutschland frei bewegen kann, unterstützt neonazistische Organisationen und Parteien. Er wird im Bundestagswahlkampf 1953 Spitzenkandidat der rechtsextremen Deutschen Reichspartei. In Südamerika betätigt er sich als Waffenhändler und Militärberater für blutige Diktatoren wie Alfredo Stroessner in Paraguay und Augusto Pinochet in Chile.

1976 kommt es zu einem Skandal, als Rudel von ranghohen Bundeswehroffizieren zu einem Traditionstreffen eines Wehrmachtsverbands eingeladen wird. Die Offiziere werden daraufhin in den einstweiligen Ruhestand versetzt. (30)

Dennoch wird Rudel bei der Fußballweltmeisterschaft 1978, die in der Militärdiktatur Argentinien stattfindet, von der Spitze des Deutschen Fußballbundes in das Mannschaftsquartier der Nationalmannschaft eingeladen, um mit seiner Biographie den Kampfes- und Siegeswillen der Spieler zu stimulieren. Kritik an dieser Einladung weist der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger mit der Begründung zurück, sie käme „einer Beleidigung aller deutschen Soldaten gleich“. (31)

Mehr als 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes kann der Präsident eines Sportverbands mit Millionen Mitgliedern einen bekennenden Rechtsradikalen und Fluchthelfer von Kriegsverbrechern zum Vorbild erklären, ohne von einem Proteststurm weggefegt zu werden.

1978 bestimmt immer noch die Vorstellung, Männer wie Rudel hätten „für Deutschland“ gekämpft, das Denken vieler Menschen. Tatsächlich hat Rudel nicht für Deutschland gekämpft, sondern für Hitler und seinen verbrecherischen Krieg. (32) Es wird noch Jahre dauern, bis dieser Unterschied mehr und mehr begriffen wird.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) ausführlich: Ulrich Herbert: Wer waren die Nationalsozialisten, Kapitel 11; Norbert Frei: Vergangenheitspolitik, Beck-Verlag 1996; aufschlussreich zum Thema ist ebenfalls: Schriftenreihe der Bundesanstalt für politische Bildung. Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter, https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/301420/die-kriegsverbrecherlobby/

(2) Zur Mitgliederentwicklung der NSDAP siehe: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1111704/umfrage/mitglieder-der-nsdap/
Recherchen sind über das Bundesarchiv möglich: https://www.bundesarchiv.de/DE/Navigation/Finden/Epochen/Deutsches-Reich-Nationalsozialismus/deutsches-reich-nationalsozialismus.html

(3) s. Bundesarchiv

(4) siehe dazu: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1140766/umfrage/zahl-der-am-holocaust-beteiligten-taeter/

(5) siehe: Elisabeth Kohlhaas: Die Mitarbeiter der regionalen Staatspolizeistellen. In: Gerhard Paul, Klaus-Michael Mallmann: Die Gestapo. Darmstadt 2003

(6) Zahl nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichssicherheitshauptamt

(7) siehe Herbert, S.247

(8) Herbert, S. 256

(9) Siehe Ralph Giordano, Die Zweite Schuld, S. 186 ff

(10) Gerne hätten wir hier auch die Biographien ehemaliger Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten aufgenommen, die ihre Tätigkeiten während der NS-Zeit offen eingeräumt, bereut und sich substantiell damit auseinandergesetzt haben. Leider sind wir dabei nicht fündig geworden. Für entsprechende Hinweise wären wir dankbar.

(11) Zu Mengele siehe: https://www.geo.de/wissen/22881-rtkl-beruechtigter-kz-arzt-mengele-wie-dem-todesengel-von-auschwitz-die-flucht-gelang

(12) https://www.sueddeutsche.de/politik/ns-verbrecher-aribert-heim-schlaechter-von-mauthausen-ist-tot-1.471618; weiterhin: https://www.sueddeutsche.de/leben/menschenversuche-die-perversion-des-heilens-1.926062

(13) Werner Best in: Herrenschicht oder Führungsvolk. In: Reich – Volksordnung – Lebensraum. Band 3, zitiert nach Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903–1989. 3. Auflage. 1996, S. 288.

(14) Best, zit. nach Herbert, wer waren die Nationalsozialisten, Herbert, S. 175. Siehe dazu auch die Biografie: Ulrich Herbert: Best

(15) Zur Anklage gegen die Schreibtischtäter aus dem Reichssicherheitshauptamt und deren faktische Amnestie: Giordano, Die zweite Schuld, S.188 ff

(16) Zum Werdegang Bests nach 1945 siehe: Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien S. 467 ff

(17) Spruchkammer Hamburg – Bergedorf, zit. nach: Landtagsdrucksache 18-4464, S. 499, (Schleswig-Holstein)

(18) Zu Reinefarth siehe: Philipp Marti: https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/der-fall-reinefarth-1944-2014

(19) Zit. nach: Report München – https://www.br.de/mediathek/video/report-muenchen-extra-eichmanns-geheimer-komplize-av:62e7816bf94c0600082b1673; eine Zusammenfassung ist zu sehen unter: https://www.youtube.com/watch?v=4ssNsVopoUg; Eine englischsprachige Version des Videos ist verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=f9JXm1ti0Rg (Unmasking a hidden Nazi – The SS-General living unnoticed in Germany – Report München).
Lesenswert ist auch: Der Standard: „Der Minderbelastete“ – Gestapo-Chef Franz-Josef Huber

(20) Zu Marmon siehe u.a.: Gunnar Richter: Die Geheime Staatspolizeistelle Kassel 1933–1945, Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG), Band 106 (2001); weiterhin: www.vhghessen.de/inhalt/zhg/ZHG_106/11_Richter_Die%20Gestapostelle%20Kassel%20HB.pdf
Grundlegend ist die Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966 bearbeitet von Adelheid L. Rüter-Ehlermann, C. F. Rüter. Amsterdam: University Press, 1970, hier: S. 505–516 Erschießung von 78 italienischen Fremdarbeitern am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe wegen Plünderung eines Verpflegungszuges der Wehrmacht

(21) Siehe dazu auch: Zukunft braucht Erinnerung. Neue Tendenzen in der Täterforschung,
https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/neue-tendenzen-in-der-ns-taeterforschung/

(22) Zu Rehse siehe: https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/rehse-hans-joachim/; das Zitat findet sich ebenfalls bei: Ralph Giordano, Die zweite Schuld, S.205

(23) Berliner Schwurgericht, zit. nach Giordano, ebd.

(24) Siehe dazu: Jörg Friedrich, Die Kalte Amnestie, S.167 ff; zu Ruckdeschel: Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 512. Mehr zum Domprediger Johann Maier und anderen, die sich gegen ein Blutvergießen kurz vor Kriegsende eingesetzt haben und deshalb hingerichtet wurden, findet sich in einer Ausstellung der Gedenkstätten Deutscher Widerstand: https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/johann-maier/?no_cache=1

(25) Zu Ganzenmüller siehe: Giordano, 183 ff

(26) Zu Globke siehe LEMO: https://www.hdg.de/lemo/biografie/hans-globke.html; Giordano 144 ff

(27) Zu Filbinger siehe u.a.: https://www.mdr.de/geschichte/weitere-epochen/zwanzigstes-jahrhundert/karrieren-mit-ns-vergangenheit-100.html

(28) Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie, S. 104. Die Prozesse gegen Direktoren der IG Farben, Krupp und Flick werden von Friedrich auf den Seiten 103 bis 121 anhand der Gerichtsakten ausführlich dargestellt. Die Akten sind wiederum in dem Sammelband trials of war criminals, Washington 1952

(29) Eine ausführliche und lesenswerte Darstellung der „Arisierung“ mit vielen konkreten Beispielen von Unternehmen und Banken, die sich an jüdischem Eigentum bereichert und auch noch nach 1945 davon profitiert haben, findet sich hier: https://www.spiegel.de/wirtschaft/arisierung-keiner-hat-hier-was-zu-feiern-a-2c247062-0002-0001-0000-000013526450
Zu Neckermann siehe auch: Deutschlandfunk, https://www.deutschlandfunk.de/versandhauskoenig-und-dressurreiter-100.html; zum Umfang des Raubes an jüdischem Eigentum siehe weiterhin: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/industrie-und-wirtschaft/arisierung.html
In dem Buch Das nationalsozialistische Lagersystem von Martin Weinmann, Anne Kaiser und Ursula Krause-Schmitt findet sich eine Liste von 2500 teils sehr bekannten Unternehmen, die Zwangsarbeiter eingesetzt und von der Zwangsarbeit profitiert haben.

(30) siehe dazu: https://www.ardmediathek.de/video/panorama/traditionspflege-in-der-bundeswehr-1976/das-erste/Y3JpZDovL25kci5kZS9lMTRiMDNkNi1mODQ2LTQ4N2YtYmNkYS1kODAxZjViNDQ2N2I

(31) zit. nach: https://www.tagesspiegel.de/sport/ein-besuch-bei-alten-kameraden-der-nazi-rudel-kam-1978-1654594.html.
Siehe dazu: https://www.sport.de/news/ne2914028/hermann-neuberger-der-dfb-praesident-und-der-diktator/ Die Geisteshaltung des DFB zeigte sich bereits ein Jahr vorher, als einen Tag vor einem Freundschaftsspiel der deutschen Nationalelf gegen Argentinien bekannt wird, dass die deutsche Theologiestudentin Elisabeth Käsemann von den Schergen der Militärdiktatur verschleppt, gefoltert und ermordet wurde. Anstatt sofort abzureisen, wurde gespielt, um den Diktator nicht zu verärgern. Neuberger bestritt sogar, dass es in Argentinien eine Militärdiktatur gebe. Allerdings stand der DFB mit dieser Haltung nicht allein. Die gesamte offizielle Fußballwelt fand nichts dabei, in einer Diktatur in Stadien zu spielen, die oft in Hör- und Sichtweite der Folterstätten waren. Dagegen bewies der Trainer des neuen Weltmeisters Argentinien, Cesar Luis Menotti, Anstand und Haltung, als er unter großem persönlichen Risiko nach dem Finalsieg dem Diktator Jorge Videla vor den Augen der Welt den Handschlag verweigerte.
https://www.aachener-zeitung.de/sport/die-braune-vergangenheit-der-fussballvereine_aid-44276633

(32) Genauso wie heute russische Soldaten in der Ukraine nicht für Russland kämpfen, sondern für Putin und seinen verbrecherischen Krieg. 

 

Fotonachweise:

Polnische Frauen jüdischer Herkunft werden zur Exekution in einen Wald geführt: Unknown author, Palmiry ostatnia droga, Narodowe Archiwum Cyfrowe (Sygnatura: 21-206-2) (Polish National Digital Archive), gemeinfrei https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11574840

Best im Gewahrsam der Alliierten – Kopenhagen 1945: photographer on behalf of the Civilian Interrogation Centre – British Military Mission Denmark, W. Best, National Museum of Denmark (Collection online), gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:W._Best.jpg

Der Warschauer Aufstand wurde niedergeschlagen, 1944: Bundesarchiv, Bild 183-J27793 / Schremmer, Warschauer Aufstand, Straßenkämpfe, CC BY-SA 3.0 DE, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-J27793,_Warschauer_Aufstand,_Stra%C3%9Fenk%C3%A4mpfe.jpg

Eines von mehr als 5000 Todesurteilen des Volksgerichtshofs: Urteil gegen den Arzt Dr. Alois Geiger wegen „Wehrkraftzersetzung“, Ausschuss fuer Deutsche Einheit, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2722177

Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935: Wilhelm Stuckart; Hans Globke, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stuckart10.pdf