Deportation und Ermordung der jüdischen Deutschen

Der seit dem Beginn des Dritten Reichs herrschende Staatsantisemitismus mündet in eine planmäßige Politik der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der jüdischen Deutschen. Die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Land verbliebenen jüdischen Deutschen werden in Ghettos und in Vernichtungslager im besetzten Ostmitteleuropa deportiert, selektiert und je nach Arbeitsfähigkeit sofort in den Gaskammern ermordet oder der „Vernichtung durch Arbeit“ zugeführt. Dem Holocaust fallen zur gleichen Zeit Millionen jüdische Frauen, Männer und Kinder aus den besetzten Gebieten zum Opfer.

Der Weg in die Gaskammern

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Jüdin mit Kindern auf dem Weg in den Tod, 1944

Die Novemberpogrome von 1938 hatten deutlich gemacht, dass der Schutz durch Recht und Gesetz für Jüdinnen und Juden nicht mehr gilt. Die Verbliebenen versuchen nun auszureisen, doch nur wenige Länder wollen die deutschen Geflüchteten aufnehmen; Eltern minderjähriger jüdischer Kinder entschließen sich, sie mit organisierten Transporten ins Ausland, vor allem nach Großbritannien, aber auch nach Belgien, Frankreich, Schweden, in die Niederlande oder die Schweiz zu schicken. Doch für die meisten jüdischen Menschen in Deutschland gibt es keine Rettung mehr.

Nach der Eroberung Polens wird die jüdische Bevölkerung in Ghettos konzentriert, und nach dem Überfall auf die Sowjetunion beginnt 1941 auch dort die Einrichtung von Ghettos und die Errichtung von Vernichtungslagern. Zu diesen Orten im besetzten Ostmitteleuropa werden die jüdischen Deutschen deportiert. Aus dem Regierungsbezirk Kassel organisieren Gestapo, Polizei und Vertreter von Kreis- und lokalen Behörden drei Transporte: im Dezember 1941 nach Riga in Lettland, Ende Mai und Anfang Juni 1942 nach Lublin und ins Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen und im September 1942 nach Theresienstadt bei Prag. Weitere Deportationszüge fahren aus dem Volksstaat Hessen ab.

In den Vernichtungslagern im Generalgouvernement Polen angekommen, werden die nach den Transporten völlig erschöpften Menschen auf eine Art Appellplatz getrieben. Einzelne Deportierte werden zur Zwangsarbeit aussortiert und vorübergehend am Leben gelassen. Gehunfähige werden sofort erschossen. Alle anderen werden in einen abgetrennten Teil des Lagers geführt. Dort müssen sie sich entkleiden. Anschließend werden sie, zunächst die Männer, dann die Frauen und Kinder, in das Gebäude mit den Gaskammern getrieben und dort mit Motorenabgasen erstickt. Später wird die Ermordung durch Motorenabgase durch die Vergiftung mit dem Gas Zyklon B ersetzt.

Einen großen Teil der Morde verübten überdies die „Einsatzgruppen“ der SS, die hinter der Ostfront in den gerade besetzten Gebieten ungehindert töten konnten. Bei einzelnen Massakern kamen manchmal mehrere Zehntausend jüdische Männer, Frauen und Kinder ums Leben. Deportationen von und Morde an jüdischen Menschen gab es in allen Ländern und Gebieten, die von Deutschland besetzt waren. Einheimische antisemitische Helfende unterstützten den Vernichtungsfeldzug mal mehr (in Osteuropa), mal weniger (in Westeuropa). Insgesamt fielen dem nationalsozialistischen Judenmord 6 Millionen Menschen zum Opfer.

Siehe dazu auch: Der Vernichtungskrieg

Grundlegende aktuelle Literatur zur Zahl der Ermordeten: Einleitungen zu den 16 Bänden der Quellensammlung „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945“ (VEJ). Herausgegeben im Auftrag des Bundesarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte und des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg von Susanne Heim u.a. München 2008–2020.

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Jüdische Bewohner und Bewohnerinnen des Warschauer Ghettos werden im April 1943 abgeführt und in Vernichtungslager gebracht

Biografien der Opfer

Stellvertretend für die Opfer des Völkermords stehen hier einige Lebensläufe jüdischer Menschen aus Hessen:


Familie Freudenthal

Der 19-jährige Ernst Freudenthal gehört zu jenen, die am 1. Juni 1942 in Kassel den Zug besteigen müssen. Er ist der Sohn des Kaufmanns Willy Freudenthal aus Laisa im Kreis Frankenberg; seine Schwester Lore (1930–1988) konnte Ende August 1939 mit dem letzten Kindertransport von Frankfurt nach England reisen. Ernst Freudenthal hofft lange, nach Palästina auswandern zu können und begibt sich 1940 zur landwirtschaftlichen Ausbildung (Hachschara) auf das Gut Skaby bei Spreenhagen nahe Berlin. Da die Auswanderung nach Palästina inzwischen nicht mehr möglich ist, kommt Ernst im September 1940 nach Marburg, wo seine Eltern leben – die Familie des Marburger Mathematik-Professors Kurt Hensel (1861–1941) hatte sie in ihrer Villa nahe dem Landgrafenschloss bei sich aufgenommen. Bis zur Deportation wohnt Ernst im „Gettohaus“, Steinweg 16. Er wird zu Bau- und Erdarbeiten herangezogen. Im Juni 1942 werden Ernst und seine Eltern mit dem Zug nach Lublin gebracht. Dort werden Männer, die als arbeitsfähig gelten, aus dem Zug und zum KZ Majdanek getrieben. Seine Mutter fährt mit den übrigen Männern, Frauen und Kindern noch rund 100 km weiter in das bei dem Dorf Sobibor angelegte Vernichtungslager.

In der Regel wurden Neuankömmlinge innerhalb von zwei Stunden nach der Ankunft in einer der Gaskammern ermordet und die Leichen dann in Gruben geworfen und verscharrt.

Willy Freudenthal wurde am 15. September 1942 mit anderen Kranken in einem Waldstück erschossen. Schon am 9. Juli 1942 hatte der Auktionator Karl Schott im Auftrag der Reichsfinanzverwaltung seinen Besitz versteigert. Der Erlös von 2555,50 Reichsmark floss der Finanzkasse Marburg zu. Am 19. November 1942 wurde auch die persönliche Habe von Ernst Freudenthal versteigert. Wann und unter welchen Umständen er im Lager umgekommen ist, ließ sich bislang nicht ermitteln. Zahlreiche Einzelheiten über sein Leben in Deutschland hat Gina Burgess Winning durch jahrelanges Nachforschen herausfinden können, die Tochter von Ernsts Schwester Lore, die in England lebt. Für sie war solche Erinnerungsarbeit die einzige Möglichkeit, ihren von den Nationalsozialisten ermordeten Onkel kennen zu lernen. (1)

 

Familie Eisenstädt

Am 27. Mai 1942 erreicht den 22-jährigen Hanauer Robert Eisenstädt die Nachricht, er müsse sich mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nur drei Tage später einem Transport nach Polen anschließen. Die Familie umfasst sieben Angehörige: seine seit 1936 verwitwete Mutter Henriette und die beiden älteren Geschwister Martha und Wilhelm, seine beiden jüngeren Geschwister Rosa und Heinrich sowie seinen 4-jährigen Neffen Heinz-Helmut. Die Eltern des kleinen Kindes waren Martha und ihr nichtjüdischer, zur Wehrmacht eingezogener Partner Hans Waider (1915–1944), die wegen der Rassengesetze nicht heiraten durften. Zuvor gefasste Pläne, sich im Fall der Deportation zu verstecken, konnten nicht umgesetzt werden, weil das Hilfsangebot zurückgezogen wurde. Eisenstädts Verlobte Eva Molnar, eine ungarische Jüdin, die sich in Frankfurt Eva Müller nannte, bestärkte ihn darin, sich dem Transport anzuschließen, da sie befürchtete, dass Roberts Angehörige andernfalls Repressalien ausgesetzt würden. Am 30. Mai verließ die Familie Eisenstädt das Hanauer Ghettohaus. Der Bahnhof in Hanau diente wie die Stationen in anderen Kleinstädten entlang der Bahnlinie als Sammelplatz für die jüdischen Menschen aus der Stadt und aus den Dörfern der Umgebung.

Von den 510 Personen, die Ende Mai 1942 aus ihren hessischen Heimatorten mit einem Massentransport aus Kassel verschleppt werden, überlebt nur Robert Eisenstädt. Während seine Angehörigen in Sobibór und Majdanek ermordet werden, gelingt es ihm am 11. Juli 1942, aus dem Lager zu entkommen und nach anderthalb Wochen seine Geburtsstadt Frankfurt zu erreichen. Dort erholt er sich, von Eva Molnar und von nichtjüdischen Helfenden unterstützt, von seinen Verletzungen. Anfang 1943 flieht er über die grüne Grenze weiter in die Schweiz. Am 21. Februar 1943 gelangen er und seine sichtbar schwangere Verlobte nach Hemishofen im Kanton Schaffhausen; die Schwangerschaft bewahrte sie davor, von den schweizerischen Grenzwachen zurückgeschickt zu werden. Noch im gleichen Jahr heiraten sie.

Ein Jahr später, also noch vor Ende des Krieges, veröffentlicht Robert Eisenstädt anonym einen kurzen Bericht über seine Erlebnisse. Robert, der in der Schweiz zum Christentum konvertiert ist, wandert 1947 mit seiner Frau und der 1943 in Basel geborenen Tochter Adina Maria in die USA aus. Er berichtete der Shoah Foundation in einem Interview über seine Erlebnisse. 1996 starb Robert Eisenstädt. Von seiner Familie hat außer ihm nur seine älteste Schwester Herta (1913–2008) und deren Sohn Gerald von Gostomski (1944–2013) in den USA überlebt.
Sein Lebensweg wurde u. a. von Beate Kosmala und Monica Kingreen (1952–2017) beschrieben. (2)

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Verbrennung von Leichen im KZ Ausschwitz, 1944

Familie Baer

Die Schwestern Anna (*1875) und Ella Baer (*1879) entstammten einer verarmten jüdischen Kaufmannsfamilie aus Arolsen, der Residenzstadt des Fürstentums Waldeck. Ihr jüngeres Geschwister Martha (*1885) ist intergeschlechtlich; 1906/07 war er einer der Ersten, denen es gelang, die Änderung seiner Geschlechtsidentität durch die Behörden zu erreichen – seither nannte er sich Karl M. Baer. Er hatte den provinziellen Lebenskreis früh verlassen, lebte in Hamburg und Berlin, wo sich Magnus Hirschfeld seiner annahm. 1907 veröffentlichte er unter dem Pseudonym „N. O. Body“ einen aufsehenerregenden Erlebnisbericht: Aus eines Mannes Mädchenjahren. 1920 wurde Karl M. Baer zum Direktor der Berliner Sektion der Loge Bne Briss berufen, die Berlins Großrabbiner Leo Baeck als Präsidenten unterstand.

Die Witwe Lina Baer (1845–1921) ließ sich mit ihren beiden erwachsenen Töchtern in Wrexen nieder, einem Dorf im Norden von Waldeck, und dort blieben sie bis an ihr Lebensende. Anna und Ella waren für örtliche Industriebetriebe tätig, Ella als Kontoristin bei der Papierfabrik Mosheim. Im Nationalsozialismus wird der Betrieb zwangsarisiert, wodurch Ella Baer ihre Stellung verliert. Zu Beginn der 1920er-Jahre lassen die Schwestern mit finanzieller Unterstützung ihres Bruders Karl auf einem parkartigen Grundstück ein Haus errichten, das Villa Baer genannt wird. Im Dorf gelten die Schwestern als etwas sonderbar. Ella fährt stets mit dem Fahrrad zur Arbeit und ist – für die damalige Zeit eigenartig – nicht als Frau und nicht als Mann gekleidet und dazu Zigarrenraucherin.

Der Nationalsozialismus verändert das vorher enge Verhältnis der Schwestern zu ihren Nachbarn und Nachbarinnen. Die gegen Juden und Jüdinnen im ländlichen Raum gerichtete, mit roher Gewalt verbundene Verfolgungswelle erreicht bald die entlegensten waldeckischen Dörfer. Ende August 1933 wird der Papierfabrikant Mosheim in seinem Büro überfallen, die Polizei nimmt Ella Baer für einige Tage in Haft. Während der reichsweiten Pogrome im November 1938 werden die Fensterscheiben der Villa Baer eingeworfen. Die Schwestern nehmen trotz der Anfeindungen ein jüdisches Ehepaar aus Wrexen als Mieter bei sich auf.

Das Ende der in Wrexen verbliebenen Juden und Jüdinnen, die sich der nationalsozialistischen Judenverfolgung nicht entziehen konnten, ist bitter. Im September 1941 weisen die Behörden sieben jüdische Deutsche aus Korbach in die Villa Baer ein. Die Schwestern unternehmen nun Anstrengungen, Nazideutschland zu verlassen, scheitern damit jedoch. Im Mai 1942 werden vier Personen aus der Villa Baer aufgefordert, sich zum Abtransport einzufinden, unter ihnen Ella Baer. Ihre ältere Schwester Anna ist, weil über 65-jährig, (noch) nicht betroffen. Doch hatten die beiden beschlossen, über ihr Lebensende selbst zu entscheiden. Am 30. Mai 1942, dem Vorabend der Abfahrt, nehmen sie in ihrem Haus Gift ein. Um die Unantastbarkeit ihrer menschlichen Würde zu wahren, setzen sie ihrem Leben ein Ende. (3)

Liste ermordeter Juden in Europa

Eine Übersicht über die in Europa und angrenzenden Ländern lebenden und von dem NS-Regime ermordeten Jüdinnen und Juden gibt die Karte der Bundeszentrale für politische Bildung. Zu weiteren und genaueren Informationen der Karte führt ein Klick auf dem Bild:

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Siehe Gina Burgess Winning, Familie Freudenthal, in: Klaus-Peter Friedrich (Hg.), Von der Ausgrenzung zur Deportation in Marburg und im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Neue Beiträge zur Verfolgung und Ermordung von Juden und Sinti im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch, S. 289–305.

(2) https://arolsen-archives.org/content/uploads/online-it-quellenstudium-komplett-4-3-19.pdf
https://www.gedenkstaette-stille-helden.de/fileadmin/data/publikationen/Handreichung_LISUM_GSH_flitzen_verstecken_ueberleben_2018.pdf
http://rettungs-widerstand-frankfurt.de/ein-zeuge-der-vernichtung-als-aufklaerer-fuer-das-ausland/

(3) Klaus-Peter Friedrich, Zur Geschichte der jüdischen Familie Baer aus Arolsen. Neue Dokumente über die Geschwister Ella und Karl M. Baer, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 66 (2018), S. 9–29.

 

Fotonachweise:

Jüdin mit Kindern auf dem Weg in den Tod, 1944: Walter, Bernhard, Bundesarchiv Bild 183-74237-004, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5358005

Jüdische Bewohner und Bewohnerinnen des Warschauer Ghettos werden im April 1943 abgeführt und in Vernichtungslager gebracht: Unbekannter Autor (Franz Konrad confessed to taking some of the photographs, the rest was probably taken by photographers from Propaganda Kompanie nr 689.) Jürgen Stroop Possibly Franz Konrad, Stroop Report – Warsaw Ghetto Uprising 06b, retouched picture, Modifications made by Durova, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3584240

Verbrennung von Leichen im KZ Auschwitz-Birkenau, 1944: Ein heimlich aufgenommenes Foto des Widerstandes – wahrscheinlich von Alex oder Alberto Errera, einem jüdisch-griechischen Häftling des Sonderkommandos, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8676559