Was die Zahlen wirklich sagen

Die offiziellen Zahlen zu rechten Gewalttaten und den Todesopfern rechter Gewalt unterscheiden sich erheblich von den Zahlen, die zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Amadeu Antonio Stiftung veröffentlichen oder die Recherchen der „Zeit“, des Tagesspiegels, der Frankfurter Rundschau und des „Stern“ ergeben. Hinter den unterschiedlichen Zahlen stehen unterschiedliche Wahrnehmungen, Bewertungen und Interessen. Was ist Rassismus, was gesellschaftliche Normalität? Ist rechte Gewalt ein Randphänomen oder die zentrale Bedrohung der Demokratie? Kann man weiterhin zusehen und verharmlosen oder muss man endlich handeln?

Kopie eines Bekennerschreibens nach dem Brandanschlag auf das Gebäude der Jüdischen Landesgemeinde in Thüringen

Die Antonio Amadeu Stiftung zählt, gestützt auf die Recherchen der Zeit, der FR, des Tagesspiegels und des Stern 228 Todesopfer rechter Gewalt und 14 Verdachtsfälle seit der deutschen Wiedervereinigung. Staatlich sind jedoch nur 109 Todesopfer anerkannt (Stand 15.2.2021). Die tatsächlichen Opferzahlen sind möglichweise noch höher, da besonders bei Obdachlosen nicht alle Todesfälle bekannt werden und rekonstruiert werden können. Wie die unterschiedlichen Zahlen und Bewertungen zustande kommen, zeigen einige Beispiele: (1)

Politisch motivierte Gewalttat? Fünf Beispiele

Kolong Jamba

Der 19-jährige Gambier Kolong Jamba wird am 7. Dezember 1993 im Eilzug von Hamburg nach Buchholz erstochen. Der 54-jährige Wilfried S. stößt ihm ein zwölf Zentimeter langes Messer in den Bauch, weil er sich durch den Asylbewerber gestört fühlt. Das Landgericht Stade verurteilt S. im März 1997 wegen “Totschlags in einem minderschweren Fall” zu zwei Jahren Haft, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Die Richter schließen Ausländerhass als Motiv aus, obwohl Kollegen bestätigen, dass S. Schwarze Menschen mehrmals als “Teerpappe” und “Bimbos” bezeichnet hat. Das Messer habe er sich zugelegt, um sich „vor derartigen Leuten zu verteidigen“.

Für die Amadeu Antonio Stiftung ist diese Bewertung nicht nachvollziehbar. Dass ein weißer Sportschütze sich berechtigt fühlt, einen Schwarzen Menschen aus geringfügigem Anlass mit mehreren Stichen zu töten und für den Fall eines Streits mit Ausländern eine Waffe bereithält, sei geradezu ein Musterbeispiel für rassistisches Denken und daraus resultierender Gewalt. Zudem stelle sich die Frage, wieso die Tötung eines Afrikaners ein „minder schwerer Fall“ sein soll, bei dem die Strafe für den Täter zur Bewährung ausgesetzt wird.

Kolong Jamba ist staatlich nicht als Opfer rechter Gewalt anerkannt.

Klaus-Dieter Gerecke

In der Nacht zum 24. Juni 2000 wird der obdachlose Klaus-Dieter Gerecke in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) ermordet. Als die Täter, ein 21-jähriger junger Mann und zwei 18-jährige Frauen, auf den Obdachlosen treffen, fordern sie von ihm Bier und Geld. Vor Gericht stellt sich heraus, dass das Opfer mindestens eine Stunde lang mit Tritten und Schlägen gequält wurde. Die drei Täter werden der rechten Szene zugeordnet. Das Landgericht Stralsund verurteilt im Dezember 2000 den 21-jährigen Haupttäter zu siebeneinhalb Jahren Haft. Die zwei 18-jährigen Frauen erhalten Bewährungsstrafen. Ein rechtsextremes Motiv sieht das Gericht nicht.
Obdachlose sind im rechten Weltbild „Schmarotzer“ und „Parasiten“, die der „Volksgemeinschaft“ zur Last fallen und deshalb kein Recht auf Leben haben. Die verbreiteten Angriffe auf Obdachlose durch Neonazis und Skinheads und zugleich die Brutalität der Attacken ist nur durch dieses hasserfüllte sozialdarwinistische Weltbild erklärbar. Aufgrund derselben Ideologie wurden Obdachlose von den Nationalsozialisten in Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet.

Rechte Gewalt kann dabei an weit verbreitete sozialdarwinistische Denkweisen und Vorurteile anknüpfen. Die verbreitete Aberkennung menschlicher Würde und die Respektlosigkeit gegenüber Obdachlosen, die diese Gruppe zu ausgegrenzten und wehrlosen Opfern von Gewalt macht, kommen schon in dem Begriff „Penner“ zum Ausdruck. Sozialdarwinistische Hassmorde an Obdachlosen werden deshalb häufig nicht wahrgenommen oder bagatellisiert.

Klaus-Dieter Gerecke ist staatlich nicht als Opfer rechter Gewalt anerkannt.

Ingo Finnern

Der 31-jährige Obdachlose Ingo Finnern wird am 19. März 1992 von einem Skinhead in das Becken des Flensburger Hafens gestoßen und ertrinkt. Finnern gibt sich seinem späteren Mörder als Sinto zu erkennen, als dieser “Ausländer raus” grölt. Das Landgericht Flensburg verurteilt den 21-jährigen Skinhead Sascha D. zu fünf Jahren Jugendhaft, will aber keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Streit, den rassistischen Ansichten des Täters und der Tat erkennen.

Die Nationalsozialisten haben rund 500 000 Sinti*zze und Rom*nja in Vernichtungslager gebracht und ermordet, weil sie ihrer Ansicht nach „minderwertig“ sind. Warum soll ein deutscher Skinhead, der „Ausländer raus“ grölt und einen Sinto ins Wasser stößt und ertrinken lässt, anders über Sinti*zze denken und anders handeln als seine Vorbilder?

Ingo Finnern wird von der Bundesregierung 1993 zu den Opfern rechter Gewalt gezählt, 1999 nicht mehr, aber ab 2009 doch wieder.

Andreas Oertel

Andreas Oertel, ein Mensch mit Lernbehinderung, wird am 20. und 21. März 2003 in seiner Wohnung in Naumburg (Sachsen-Anhalt) mehrfach von zwei erwachsenen Männern und vier Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren misshandelt. Zunächst suchen die Jugendlichen Andreas Oertel in seiner Wohnung auf. Schon da verletzen sie ihn schwer. Sie nehmen seine Geldbörse mit. Am nächsten Tag suchen die Jugendlichen den wehrlosen Mann erneut auf. Sie werden dabei von den zwei erwachsenen Brüdern Mario B. und Silko B., beide vorbestraft wegen Körperverletzung, begleitet. Dort misshandeln sie das Opfer ein weiteres Mal. Noch dreimal dringen sie in die Wohnung ein und traktieren den 40-jährigen Mann immer wieder mit Schlägen und Tritten. Am 21. März stirbt Andreas Oertel an seinen schweren Kopfverletzungen.

Die Täter werden wegen „Raubes mit Todesfolge“ verurteilt. Die politische Dimension der Tat findet keine Berücksichtigung. Menschen mit Behinderung sind eine Opfergruppe rechter Gewalt, die von Strafverfolgungsbehörden und der Öffentlichkeit oftmals kaum wahrgenommen wird. Dabei handelt es sich wiederum um eine vom NS-Regime verfolgte Gruppe. Behinderte Menschen wurden von den Nazis als „lebensunwert “ eingestuft und im Zuge der „Euthanasie“ ermordet.

Andreas Oertel ist staatlich nicht als Opfer rechter Gewalt anerkannt.

Sven Beuter

Immer wieder wird von Ermittlungsbehörden der rechtsextreme Hintergrund von Taten geleugnet oder verheimlicht.

Der 23 Jahre alte Punk Sven Beuter wird am 15. Februar 1996 in Brandenburg/Havel von einem Skinhead so schwer geschlagen und getreten, dass er fünf Tage später stirbt. Zum Zeitpunkt der Tat wiegt Beuter, der bereits zweimal vorher von Neonazis überfallen wurde und davon schwere Kopfverletzungen und eine leichte Lernbehinderung davontrug, nur noch 40 kg. An dem Opfer lässt der 21-jährige Täter in unfassbar brutaler Weise seinen Hass auf „Zecken” ab. Der rechtsextreme Hintergrund der Tat wird vom Polizeipräsidium und von der Staatsanwaltschaft Potsdam acht Monate lang verschwiegen. Trotz der völligen Wehrlosigkeit des Opfers wird von einer Auseinandersetzung rivalisierender Jugendbanden gesprochen. Erst die Beweisaufnahme im Prozess widerlegt die Ermittlungsbehörden und leuchtet den rechtsradikalen Hintergrund des Täters und seine bisherigen Straftaten aus.

Sven Beuter wurde daraufhin als Opfer rechter Gewalt anerkannt.

Unbequeme Fragen

In den geschilderten und vielen weiteren Fällen beginnt die Gewalttat oft mit einem Streit, einem Raub oder einem geplanten „Denkzettel“. Die Gewalt eskaliert aber deshalb, weil den Opfern jeder Wert und das Recht auf Leben abgesprochen wird und sie nur noch als „Zecken“, „Parasiten“ und „Abschaum“ gelten. Dabei bestimmen Neonazis und Skinheads ihre Feinde und Opfer weiterhin nach den Maßstäben der nationalsozialistischen Ideologie und Vernichtungspraxis. Deshalb betreffen die Gewalttaten neben Migrant*innen und Geflüchteten politisch Andersdenkende, Jüd*innen, Sinti*zze und Rom*nja, obdachlose, behinderte und homosexuelle Menschen und Osteuropäer*innen – also die vorrangigen Opfergruppen der Konzentrationslager und des Vernichtungskrieges. Und genau dieser Zusammenhang wird von Ermittlungsbehörden, Justiz und Politik häufig bagatellisiert und ignoriert. So werden aus politisch motivierten Hasstaten Beziehungstaten, Jugendkonflikte, eskalierte Streitereien, Raub oder Gewaltausbrüche psychisch kranker Einzeltäter.

Die Gewalttaten richten sich gegen Angehörige von Gruppen, gegen die bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein vielfältige und tief verwurzelte Vorurteile und Feindbilder bestehen. Rechte Gewalttäter können sich auf diese Vorurteilsstrukturen und Feindbilder stützen und zu der Selbsteinschätzung kommen, sie würden mit ihren Taten eigentlich nur den „Volkswillen“ ausführen.

Um weitere Gewalttaten und Morde zu verhindern, ist eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit rassistischen und sozialdarwinistischen Vorurteilen und Feindbildern erforderlich. Dies führt allerdings zu vielen unbequemen Fragen.

Der Täter im Fall Kalong Jamba wurde zunächst freigesprochen und dann zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Wäre das Urteil auch so ausgefallen, wenn das Todesopfer kein Schwarzer Mensch, sondern ein wohlsituierter weißer Deutscher gewesen wäre?

Beim Prozess zum Mord an Walter Lübcke wurde der Täter trotz dessen rassistischer Agitation und Tötungsfantasien von seinem Umfeld nicht als rechter Hetzer, sondern als Mensch mit normalen Ansichten, als „einer von uns“ wahrgenommen. Liegt dies daran, dass Rassismus inzwischen normal ist und von vielen deshalb nicht wahrgenommen wird, weil sie selbst rassistische Auffassungen haben?

Bei dem Mord an dem Juden Shlomo Lewin und bei den NSU-Morden wurden die Täter zunächst in den Familien und dem Umfeld der Opfer gesucht, bei Lewin in der jüdischen Gemeinde. Dieses Vorgehen verteidigten die Behörden als übliche Ermittlungs- und Aufklärungspraxis.

Nach den Morden in Hanau erhielten die Angehörigen der Opfer Gefährderansprachen durch die Polizei, obwohl sie keinerlei Rachegedanken geäußert hatten. Vor den Rachegedanken des Vaters des Täters, der die rassistischen Auffassungen seines Sohnes offenbar teilt, wurden sie dagegen nicht gewarnt. (2)

Den unterschiedlichen Zahlen liegen also vielfach unterschiedliche Wahrnehmungen und Beurteilungen zugrunde. Beratungsstellen von Opfern rechter Gewalt und zivilgesellschaftliche Organisationen sprechen von Alltagsrassismus und strukturellem Rassismus. Sie fordern, diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen und die Ergebnisse für einen gesellschaftlichen Dialog und eine Sensibilisierung gegen Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus zu nutzen.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Die Beispiele sind entnommen aus der Chronik der Amadeu Antonio Stiftung „Todesopfer rechter Gewalt“: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/

Diese Chronik stützt sich wiederum auf Recherchen des Sterns, der Zeit, der Frankfurter Rundschau und des Tagesspiegels.

(2) siehe dazu: https://www.hessenschau.de/politik/landtag/vater-eines-opfers-vor-beuth-auftritt-im-hanau-ausschuss-wenn-er-ehre-hat-sagt-er-die-wahrheit-v1,opferfamilien-hanau-untersuchungsaussschuss-abschluss-100.html

 

Fotonachweise:

Kopie eines Bekennerschreibens nach dem Brandanschlag auf das Gebäude der Jüdischen Landesgemeinde in Thüringen: IMAGO / photo2000, https://www.imago-images.de/

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=54308729