Was ist, wenn Hilfe ausbleibt?
Menschen in Deutschland werden immer wieder von rechten Hetzern und Gewalttätern bedroht und attackiert. Sie sehen sich vielfach von Sicherheitsorganen und den politisch Verantwortlichen nicht ernst genommen und nicht geschützt. Wenn demokratisches Engagement zur Selbstgefährdung wird, werden die Grundlagen der Demokratie angegriffen.
Die Notwendigkeit der Wachsamkeit gegenüber den staatlichen Sicherheits- und Rechtsorganen ist auch eine zentrale Lehre der Geschichte. Große Teile aus Polizei, Justiz und Militär haben in erheblichem Maße an der Zerstörung der Weimarer Republik und der von ihnen verachteten Demokratie mitgewirkt. Zugleich war es ein strategisches Ziel der nationalsozialistischen Partei, Anhänger und Einfluss in den Sicherheitsorganen zu gewinnen, um diese letztlich übernehmen zu können.
Wirksamer Schutz gegen rechte Drohungen und Gewalt?
Werden Menschen, die aufgrund ihrer Aktivitäten, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft oder ihrer sexuellen Orientierung von rechten Extremist*innen bedroht und angegriffen werden, wirksam geschützt?
Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar und Janine Wissler haben dazu ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Seda Başay-Yıldız war Anwältin von Angehörigen der Opfer bei den NSU-Prozessen. Sie hat immer wieder gefordert, das Netzwerk hinter den Täter*innen aufzudecken, welches die Morde erst ermöglicht hat. İdil Baydar ist Kabarettistin. Ihr Hauptthema ist Rassismus. Janine Wissler war bis 2021 Fraktionsvorsitzende der Linken im Hessischen Landtag. Sie hat immer wieder Aufklärung über die Rolle des Verfassungsschutzes beim Mord an Halit Yozgat gefordert.
Die drei Frauen erhalten wiederholt Drohmails mit dem Absender „NSU 2.0“. Seda Başay-Yıldiz erhält über persönliche Morddrohungen hinaus die Ankündigung:
Als Vergeltung schlachten wir deine Tochter ab. (1)
Im Dezember 2018 wird durch einen Pressebericht bekannt, dass die Daten für die Drohschreiben gegen Başay-Yıldız von einem Polizeicomputer im ersten Frankfurter Polizeirevier abgerufen wurden. Auch die Daten für die Drohmails gegen İdil Baydar und Janine Wissler wurden 2019 und 2020 von Polizeicomputern abgerufen, diesmal im dritten und vierten Wiesbadener Polizeirevier. (2)
Die bedrohten Frauen sowie der Innenausschuss des Hessischen Landtags erfahren von den Abrufen erst durch Presseberichte. Eine persönliche Unterrichtung erhalten sie weder vom Innenministerium noch von der Polizei. Lange bleibt ungeklärt, wer die Abrufe vorgenommen hat.
Bei der Überprüfung der Abrufe stoßen Ermittler*innen auf eine Chatgruppe hessischer Polizist*innen, die sich gegenseitig rassistische und neonazistische Texte und Fotos weitergeben.
In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau berichten die drei Frauen von ihren Erfahrungen und stellen ihre Sicht dar. (3)
Idil Baydar:
Am Ende kriegt man dann die Empfehlung, zum Beratungsgespräch bei der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt zu gehen. Ich fühle mich überhaupt nicht als Opfer. Ich fühle mich als Zielscheibe. Im ersten NSU wurden Türken ermordet, und ich werde nun mal zu den Türken gezählt. Da kann man tausend deutsche Pässe haben. Trotzdem wird man mich türkisieren. Die Politik hat nichts begriffen aus dem ersten NSU.
Seda Başay-Yıldız:
Die Beamten in der Chatgruppe sind ja offensichtlich Personen, die Rassisten sind. Die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Probleme haben. Diese Beamten sind nach wie vor suspendiert, und offensichtlich kriegt man dann weiter sein Gehalt. Warum sind die noch Beamte? Warum beziehen sie noch Geld vom Land Hessen? Wenn man Vertrauen gewinnen will in die Institution Polizei, dann muss man konsequent hart durchgreifen. Der Innenminister hat viel versprochen und nichts getan.
Abdulkerim Şimşek und Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess am 11. Juli 2018 in München
Janine Wissler:
Wir haben fast alles aus der Presse erfahren. Erst wenn wir Berichtsanträge geschrieben und nachgefragt haben, hat der Innenminister zugegeben, was wir sowieso schon wussten. Und es geht ja nicht nur um diese Drohserie. Die Gefahr von rechts wächst. Die Morde in Hanau, der Mord an Walter Lübcke, der Mordanschlag in Wächtersbach, rechte Chatgruppen in der hessischen Polizei. Wir haben in Hessen wirklich ein Problem, aber es wird weiter gemauert und das reflexhafte Gerede von „Einzelfällen“ und „Einzeltätern“ erschwert das Vorgehen gegen die dahinterliegenden Netzwerke.
Die drei Frauen stehen mit ihren Erfahrungen nicht allein. Vor allem das Jahrzehnt nach der deutschen Vereinigung haben Menschen besonders in den neuen Bundesländern als Jahre der Schutzlosigkeit erlebt und dafür den Begriff der „Baseballschlägerjahre“ geprägt. Seit 2015 und zusätzlich seit dem Oktober 2023 nehmen Angriffe auf Geflüchtete und Menschen zu, die sich als Jüdinnen und Juden zu erkennen geben. Zur alltäglichen Bedrohung kommt zunehmend die anonyme Bedrohung aus dem Internet, die jederzeit – wie beispielhaft der Mord an Walter Lübcke zeigt – in Gewalttaten umschlagen kann. Auch hier ist vielfach der Schutz bedrohter Menschen nicht gewährleistet.
Rassismus und Neonazismus – Einzelfälle bei den Sicherheitsorganen?
Daten aus Polizeicomputern für rechte Drohmails
Nach den hessischen Vorfällen wurde bekannt, dass die „NSU 2.0“ Drohmails auch an weitere bekannte Personen versandt wurden, die sich den Hass der Rechten zugezogen haben. Inzwischen wurde der Autor der Schreiben ermittelt und vom Landgericht Frankfurt verurteilt. Offen blieb, wie der Verurteilte an die teilweise geschützten Daten der bedrohten Frauen gekommen ist. Pitt von Bebenburg kommentiert in der Frankfurter Rundschau:
Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, dass auch die politisch viel brisanteren Fragen aufgeworfen werden. Wie haben sich Polizistinnen und Polizisten verhalten, von denen der Angeklagte offenbar geschützte private Daten von Personen ergattern wollte? Ist es für die Beamtinnen und Beamten so selbstverständlich, solche Daten herauszugeben, dass sie sich nicht einmal mehr an einen solchen Vorgang zu erinnern vermögen? Oder ist es doch so, dass ausgerechnet Polizistinnen und Polizisten einen Rechtsextremisten oder ein rechtes Netzwerk bewusst mit solchen Daten versorgt haben, aus Überzeugung? (4)
Rassistische und neonazistische Chatgruppen bei der Polizei
In vielen Bundesländern hat ein genaueres Hinsehen dazu geführt, dass weitere rassistische und neonazistische Chatgruppen von Polizist*innen aufgedeckt wurden.
Bei der hessischen Polizei etwa sind, wie die Hessenschau am 20. Mai 2022 berichtete, insgesamt 67 rechte Chatgruppen bekanntgeworden. (5) In den Chatgruppen wurden rechtsextremistische, gewaltverherrlichende, antisemitische und teils auch kinderpornografische Inhalte geteilt. So hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt im Januar Anklage gegen fünf Beschuldigte des 1. Frankfurter Polizeireviers erhoben.
Ihnen werden das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung, Gewaltdarstellung, Beschimpfung von religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnissen und Besitz sowie Verbreitung pornografischer Schriften vorgeworfen. (6)
Bereits ein Jahr vorher hatten die Vorsitzende der hessischen Expert*innenkommission zur Verbesserung der Polizeiarbeit, die Verfassungsrechtlerin Angelika Nussberger und ihr Stellvertreter, der Richter Jerzy Montag die Inhalte der Chats als „schockierend“ und „ekelerregend“ charakterisiert. Die Chats verhöhnten insbesondere die Opfer des Holocaust, beleidigten Menschen mit Behinderung und schürten Hass gegen Geflüchtete und Frauen.
Der stellvertretende Vorsitzende Montag warnte vor einer Wiederholung der deutschen Geschichte:
Der weiter wachsende Rechtsextremismus in den Sicherheitsorganen ist die größte Bedrohung der Sicherheit und der Demokratie. (7)
Unaufgeklärter Tod in der Polizeizelle
Der Asylbewerber Oury Jalloh verbrannte im Januar 2005 in einer Zelle im Polizeirevier Dessau. (8) Die Umstände seines Todes sind bis heute nicht aufgeklärt. Die Süddeutsche Zeitung spricht von einer „kriminellen Kaltschnäuzigkeit der Polizei“ und einem „obszönen Desinteresse an ordentlichen Ermittlungen“, das auf die Geringschätzung von Geflüchteten zurückzuführen sei. Die befassten Gerichte räumen ein, dass aufgrund der Falschaussagen der sich gegenseitig deckenden Polizeibeamt*innen ein rechtsstaatliches Verfahren nicht möglich war und „Fassungslosigkeit“ zurückbleibt. (9)
Die Frankfurter Rundschau berichtet zum 17. Jahrestag des Todes von Oury Jalloh von weiteren Ungereimtheiten. (10) So wies 2019 ein radiologisches Gutachten von Professor Dr. Dr. Boris Bodelle vom Universitätsklinikum der Goethe-Universität in Frankfurt am Main auf Knochenbrüche im Bereich des Kopfes und des Brustkorbs von Oury Jalloh hin, die nicht durch den Brand erklärt werden können. Auch weitere neue Gutachten nähren die Zweifel an den Darstellungen der Polizei. Der britische Brandsachverständige Iain Peck konnte 2021 bei einer Nachstellung der Vorgänge mit einem Dummie vergleichbare Brandmerkmale erst feststellen, nachdem der Dummie vorher mit zweieinhalb Liter Benzin übergossen wurde. (11) Die Recherchegruppe Forensic Architecture kam bei einer Rekonstruktion mit vergleichbaren Räumlichkeiten anhand der bei der Tatortsicherung aufgenommenen Rauchspuren zu dem Ergebnis, dass während des Brandes entgegen der Darstellung der beteiligten Polizisten die Zellentüren offen gestanden haben müssen. Deshalb müsse der Rauch früher als angegeben bemerkt worden sein. (12) Dies legt – so die Initiative „Break the silence“ die Annahme nahe, „dass Dessauer Polizeibedienstete Jalloh schwer misshandelt und ihn anschließend mit Brandbeschleuniger übergossen und angezündet haben.“ (13)
Meinungsfreiheit für Lynchdrohungen?
Im Bundestagswahlkampf 2021 bringt die neonazistische Partei „Der Dritte Weg“ in mehreren Städten Wahlplakate mit der weithin sichtbaren Aufschrift „Hängt die Grünen“ an. Die Stadt Zwickau sieht zunächst keinen Anlass, die Entfernung der Plakate anzuordnen. Als sie sich nach vielfachen Protesten doch dazu entschließt, klagt „Der Dritte Weg“. Das Verwaltungsgericht Chemnitz gibt zunächst der rechtsextremen Partei recht. Es bedarf einer Entscheidung des sächsischen Oberverwaltungsgerichts, um zu klären, dass die Plakate „volksverhetzend“ sind und deshalb entfernt werden müssen. (14)
Schon vorher konnte die neonazistische Partei „Die Rechte“ jahrelang Plakate mit der Aufschrift „Wir hängen nicht nur Plakate“ öffentlich verbreiten. Eine Reihe von Staatsanwaltschaften lehnte es unter Berufung auf die Meinungsfreiheit ab, gegen eine solche Ankündigung von Lynchmorden tätig zu werden. Erst das Oberverwaltungsgericht in Nordrhein-Westfalen verbot die Präsentation des Plakats. (15)
Ebenfalls während des Bundestagswahlkampfes 2021 legten in Würzburg Neonazis in der Fußgängerzone Leichentücher aus, auf denen sich blutbeschmierte Strohpuppen mit den Fotos von Armin Laschet, Annalena Baerbock und Olaf Scholz und ein Transparent „Reserviert für Volksverräter“ befanden. Die Staatsanwaltschaft Würzburg lehnte es ab, wegen „Billigung von Straftaten“ (§140 StGb) zu ermitteln, sondern sah keinen Grund, tätig zu werden. (16)
Strafloser Antisemitismus
Immer wieder scheinen auch antisemitische Vorstellungen oder zumindest eine mangelnde Sensibilität gegenüber dem Antisemitismus eine Rolle zu spielen:
So musste im März 2021 erst das Oberlandesgericht Karlsruhe die Pforzheimer Staatsanwaltschaft veranlassen, aufgrund eines Neonazi Spruchbandes „Israel ist unser Unglück“ wegen Volksverhetzung zu ermitteln, obwohl die Analogie zur nationalsozialistischen Parole „Die Juden sind unser Unglück“ unübersehbar war. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte die genannten Vorfälle mit der Schlagzeile
„Die Justiz stellt sich blöd“ und schreibt weiter:
Es ist brandgefährlich, und es ist blamabel für den Rechtsstaat, wie sich die Neonazis amüsieren durften über die Juristen, die ihnen höflich aus dem Weg gegangen sind, anstatt wegen Billigung von Straftaten nach Paragraf 140 des Strafgesetzbuchs zu ermitteln. (17)
Das Verwaltungsgericht München untersagte die vom Polizeipräsidium München angestrebte Entlassung des früheren Personenschützers der ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch.
Der Personenschützer war Teilnehmer einer Chatgruppe mit sieben weiteren Polizist*innen, in der man sich mit SH (Sieg Heil) und HH (Heil Hitler) grüßte und die Neuerrichtung von Konzentrationslagern befürwortete. Er hatte in einem Beitrag geschrieben, er fahre mit Frau Knobloch lieber nach Dachau als nach Auschwitz, weil man da „früher heimkomme“. Ein Chatpartner erwiderte: „Aber nicht der, der den Ofen sauber machen muss.“
Nach Ansicht des Gerichts handelte es sich bei diesen Aussagen nur um verbale Entgleisungen und nicht um den Beleg einer antidemokratischen Gesinnung. (18)
Mangelnde Haltung und Führung
Rechtsradikale Chatgruppen und Umtriebe gibt es auch in der Bundeswehr. Dies betrifft besonders die Eliteeinheiten des KSK. Die ehemalige Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer löste die zweite Kompanie der KSK am 1. August 2020 auf, weil dort rechtsradikale Strömungen so dominant geworden waren, dass die Ministerin die Kompanie für nicht mehr reformierbar hielt. (19)
Bereits 2017 hatte ihre Amtsvorgängerin Ursula von der Leyen von einem Mangel an Haltung und Führung im Umgang mit rechten Extremisten bei Teilen der Bundeswehr gesprochen. Zu diesem Zeitpunkt ermittelte der Militärische Abschirmdienst in 280 Verdachtsfällen. Unter diesen Verdachtsfällen befand sich zum Beispiel ein Bundeswehrangehöriger, der ein Foto eines Soldaten mit Maschinengewehr im Netz so kommentierte: „Das schnellste deutsche Asylverfahren, lehnt bis zu 1400 Anträge in der Minute ab.“ Das Verfahren gegen den Mann war eingestellt worden, weil „Dienstvergehen nicht nachgewiesen werden konnten“. In diesem Zeitraum machte auch der Offizier Franco A. Schlagzeilen, der sich als syrischer Flüchtling ausgab und Attentate verüben wollte, um die Wut der Bevölkerung auf Geflüchtete zu lenken. (20)
In ihrer Haltung gegenüber Rechtsextremisten in der Bundeswehr wurde Ministerin von der Leyen vom Bundeswehrverband nicht etwa unterstützt, sondern für ihre Aussagen kritisiert.
Zugleich wurden aus Bundeswehrbeständen große Mengen an Waffen und Munition gestohlen. Die rechtsextremistische Gruppe Nordkreuz, der eine Reihe aktiver und ehemaliger Elitesoldaten und Polizisten angehören, stellte Todeslisten mit Namen und Adressen von 25 000 politischen Gegnern zusammen, die am Tag X ermordet werden sollen. (21)
Waffen und Agitationsmaterial rechter Gewalttäter – dennoch bleiben sie immer wieder straffrei
Ehemaliger Verfassungsschutzpräsident ein Rechtsextremist?
Im Januar 2024 wurde bekannt, dass der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans Georg Maaßen, nun selbst vom Verfassungsschutz beobachtet und als Rechtsextremist gespeichert wurde. (22) Der Vorgang zeigt, dass die Nähe zum rechten Extremismus und die Übernahme seiner Anschauungen keineswegs auf untergeordnete Dienstränge begrenzt ist.
Das Präsidium der CDU hatte bereits im Januar 2023 Maaßen aufgefordert, die CDU freiwillig zu verlassen, um einen Parteiausschlussverfahren zuvor zu kommen.
Die stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Karin Priem, begründete die Austrittsforderung mit Maaßens
wiederholte(n) Nutzen antisemitischer und verschwörungstheoretischer Codes, seine(r) Verharmlosung von Rassismus und Nazi-Ideologie und der zur Schau gestellten Offenheit für Rechtsextreme. (23)
Maaßen hat etwa in einem Tweed von einem „eliminatorischen Rassismus gegen Weiße“ (24) gesprochen. Er schrieb weiter von einer
grün-roten Rassenlehre, nach der Weiße als minderwertige Rasse angesehen werden und man deshalb arabische und afrikanische Männer ins Land holen müsse. (25)
Die Biografie des Hans-Georg Maaßen ist ein Spiegel des Umgangs mit der Bedrohung durch rechte Gewalt. Maaßen wurde 2012 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, nachdem das Amt wegen der mangelnden Aufklärung der NSU-Mordserie und insbesondere der Vernichtung einschlägiger Akten unter enormen Druck geraten war. Allerdings verbesserte sich die Aufklärung nach Maaßens Amtsantritt nicht. Im Gegenteil zog Maaßen durch die Verharmlosung des Rechtsextremismus immer mehr Kritik auf sich.
2012 wollten Journalist*innen der Frage nachgehen, wieso einer der meistgesuchten NS-Kriegsverbrecher, Alois Brunner, der an der Deportation und Ermordung von 170 000 Juden beteiligt war, sich bis zu seinem Tode einer Strafverfolgung entziehen konnte. Maaßen verweigerte dazu die Einsicht der einschlägigen Akten des Verfassungsschutzes. Es bedurfte zweier Gerichtsentscheide, um den Zugang zu erzwingen. (26)
2018 konnte der damalige Innenminister Seehofer nicht länger seine schützende Hand über Maaßen halten. Maaßen hatte Videos, in denen Ausschreitungen rechter Gewalttäter bei einer Demonstration in Chemnitz festgehalten waren, ohne jeden Beweis unter den Verdacht gestellt, sie seien eine Fälschung antifaschistischer Gruppen. Erst nach langen Auseinandersetzungen und einer zwischenzeitlichen Beförderung zum Staatssekretär wurde er in den „einstweiligen Ruhestand“ versetzt, in dem er weiterhin üppige Dienstbezüge erhält.
Schon Jahre zuvor hatte Maaßen Schlagzeilen gemacht. Als Leiter der „Projektgruppe Zuwanderung“ im Bundesministerium des Inneren war er 2002 mit der Frage befasst, ob Deutschland den im US-Gefangenenlager Guantanamo jahrelang zu Unrecht festgehaltenen Murat Kurnaz wieder aufnehmen müsse. Maaßen empfahl, die Aufnahme abzulehnen, da Kurnaz sich während seines „Aufenthalts” in Guantanamo nicht termingerecht bei der zuständigen Bremer Ausländerbehörde zurückgemeldet habe und deshalb seine Aufenthaltsgenehmigung erloschen sei. Das Bremer Verwaltungsgericht korrigierte 2005 diese von den Bremer Behörden übernommene Rechtsauffassung, ohne dass dieser Rechtsverstoß Maaßens Karriere beeinträchtigte. (27) Kurnaz wurde weitere vier Jahre in Guantanamo festgehalten.
Unmittelbar nach seiner Ernennung zum neuen Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz vollzog Maaßens Nachfolger, Thomas Haldenwang, eine Kehrtwende und erklärte den Rechtsextremismus zur größten Gefahr für die Sicherheit und die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Die Ernennung Maaßens zum Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz und das Festhalten an ihm hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Gefahr durch den Rechtsextremismus jahrelang bagatellisiert und wertvolle Zeit bei seiner Bekämpfung verschenkt wurde.
Gefährdete Demokratie
Trotz dieser weit über „Einzelfälle“ hinaus gehenden Vorgänge wird von den Sicherheitsorganen und den für sie politisch Verantwortlichen immer wieder Vertrauen eingefordert und betont, dass die große Mehrheit der im Sicherheitsbereich oder Polizeidienst tätigen Beamt*innen rassistische, antisemitische oder sozialdarwinistische Denkweisen und Einstellungen ablehnt und zur demokratischen Verfassungsordnung steht. Man könne Verfehlungen Einzelner in Behörden und Dienststellen mit mehreren tausend Mitarbeiter*innen nicht völlig ausschließen, gehe diesen aber konsequent nach.
Eine unabhängige Untersuchung, die Klarheit über diese Fragen hätte bringen, Vertrauen wiederherstellen und Handlungsbedarfe aufzeigen können, wurde 2018 vom damaligen Bundesinnenminister Seehofer abgelehnt. Sie hat bis heute nicht stattgefunden.
Dennoch sind die mit der Ablösung Maaßens als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz begonnenen Veränderungen inzwischen sichtbar. Ein wichtiger Schritt war die Einstufung der AfD Jugendorganisation „Junge Alternative“ und der AfD-Landesverbände Thüringen, Sachsen- Anhalt und Sachsen als „gesichert rechtsextremistisch“.
2019 entschied das Verwaltungsgericht Meiningen, dass der Vorsitzende der AfD in Thüringen Björn Höcke als „Faschist“ bezeichnet werden darf. Grundlage dieses Urteils war eine dem Gericht vorgelegte Materialsammlung mit zahlreichen Zitaten Höckes, in denen dieser u.a. vom „bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch“ sprach oder eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ einforderte. (28)
Es wäre im Interesse der Demokratie, dass die Sicherheitsbehörden Vertrauen zurückgewinnen – durch eine klare Haltung gegenüber rechten Extremist*innen in ihren Reihen und vor allem durch positive Erfahrungen von Menschen, die sich an sie gewandt haben, weil sie sich von militanten Rechten bedroht fühlen oder bereits zum Opfer von Attacken geworden sind. Solche positiven Erfahrungen würden Menschen ermutigen, sich zu engagieren und so zu einer lebendigen Demokratie beitragen.
2000 hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach einem Anschlag auf die Düsseldorfer Synagoge und weiteren rechtsextremen Gewalttaten einen „Aufstand der Anständigen“ gefordert. Tatsächlich sind demokratisch engagierte Bürger*innen mit Zivilcourage der beste Verfassungsschutz. Allerdings müssen Menschen, die sich gegen rechte Gewalt engagieren, darauf vertrauen können, dass der Staat und seine Organe sie schützen und auf ihrer Seite stehen, wenn sie aufgrund dieses Engagements bedroht werden. Dieses Vertrauen ist bei vielen Menschen erschüttert worden oder verloren gegangen. Oft war es erst die öffentliche Aufmerksamkeit und der öffentliche Druck, der politisch Verantwortliche oder die Sicherheitsorgane zum Hinsehen und zum Handeln zwang. Aufmerksamkeit und Courage sind auch weiterhin gefordert.
Gedenkdemonstration anlässlich des ersten Jahrestages des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau in Berlin
Quellen, Hinweise und weitere Informationen
(1) Süddeutsche Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/politik/frankfurt-polizei-rechtsextremismus-fax-1.4255560 . Im Fax ist zusätzlich der Name der Tochter und die Wohnadresse angegeben: „Als Vergeltung … Schlachten wir deine Tochter (Name) in der (Adresse) ab“.
(2) İdil Baydars Daten wurden 2019 auch auf einem Berliner Polizeicomputer abgerufen: https://www.tagesspiegel.de/berlin/drohmail-affaere-nsu-2-0-verdaechtige-datenabfragen-nach-kabarettistin-baydar-bei-berliner-polizei/26130842.html
(3) Die Aussagen von Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar und Janine Wissler sind folgendem Artikel der Frankfurter Rundschau entnommen: https://www.fr.de/politik/nsu-20-frankfurt-polizei-drohmail-beuth-innenminister-baydar-basay-yildiz-wissler-anwaeltin-linke-90119387.html, https://www.fr.de/rhein-main/nsu-polizei-im-zwielicht-91654856.html
(4) Der Kommentar ist zu lesen unter: https://www.fr.de/meinung/kommentare/nsu-frankfurt-prozess-verfahren-drohschreiben-landgericht-kommentar-91229474.html. Eine Zusammenfassung der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft sowie ein Portrait des Beschuldigten findet sich in der Frankfurter Rundschau: https://www.fr.de/politik/aggressiv-vulgaer-rassistisch-91229616.html
(6) ebd.
(7) https://www.fr.de/politik/polizeichats-in-hessen-roh-in-nicht-auszuhaltendem-masse-90910478.html; https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/justiz/id_90278582/hessen-neue-details-zu-rechtsextremen-polizei-chats-bekannt.html
(8) Zu Oury Jalloh siehe Chronik der Amadeu Antonio Stiftung: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/ Zum aktuellen Stand siehe Süddeutsche Zeitung https://www.sueddeutsche.de/politik/oury-jalloh-sonderbericht-1.5013978
(9) alle Zitate in diesem Absatz aus: https://www.sueddeutsche.de/politik/justizskandal-die-lange-liste-der-seltsamkeiten-im-fall-oury-jalloh-1.3752124
(10) Einen Überblick über die Fragwürdigkeiten im Zusammenhang mit dem Tod von Oury Jalloh und den gegenwärtigen Erkenntnisstand gibt der sehr lesenswerte Artikel der Frankfurter Rundschau „Tod in der Zelle“: https://www.fr.de/politik/oury-jalloh-17-jahre-ungewissheit-91218744.html
(11) siehe dazu: https://www.tagesschau.de/inland/tod-jalloh-gutachten-101.html
(12) https://www.fr.de/politik/oury-jalloh-brisante-rauchspuren-analysiert-91588362.html
(13) zit. nach FR, brisante Rauchspuren, Anm. 8. Die FR fügt hinzu: Jalloh war der dritte Mensch, der in dem Dessauer Revier in Polizeigewahrsam gestorben ist, und der zweite in dieser Zelle.
(14) „Die Justiz stellt sich blöd“; Süddeutsche Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/meinung/neonazis-justiz-gewalt-1.5417036?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE
(18) siehe dazu: https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/das-vertrauen-wird-bruechiger/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE; https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-polizei-verwaltungsgericht-antisemitismus-1.5747676
(19) Zu rechtsextremistischen Vorfällen in der KSK: https://www.tagesschau.de/inland/sek-frankfurt-rechtsextreme-chats-aufgeloest-101.html; siehe dazu auch: Rechtsextremismus- Experte Dirk Laabs über rechte Netzwerke in der Bundeswehr und den Tag X https://www.fr.de/politik/rechtsextremismus-bundeswehr-ksk-experte-interview-news-90222068.html
(20) siehe dazu: https://www.n-tv.de/politik/Rechts-raus-bei-der-Bundeswehr-Zu-selten-article19821412.html
(21) siehe dazu: https://www.tagesspiegel.de/politik/todeslisten-von-rechtsextremisten-nordkreuz-sammelte-25-000-adressen-politischer-gegner/24531906.html ausführlicher: Gabriela Keller, Prepper – bereit für den Untergang, 2021
(22) https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/maassen-verfassungsschutz-106.html
(23) So die stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Karin Priem. Zit. nach: https://www.fr.de/politik/hans-georg-maassen-cdu-parteiaustritt-rechtsextremismus-rassismus-twitter-czaja-92046223.html
(24) ebd. „Eliminatorischer Antisemitismus“ ist ein Begriff aus der Holocaustforschung, der den Übergang von der Diskriminierung zur Vernichtung der europäischen Juden beschreibt. (Siehe dazu auch Thema 5.5: Die Aufarbeitung der NS-Verbrechen.) Diesen Begriff auf „Weiße“ oder Deutsche zu übertragen, unterstellt oder legt nahe, dass in vergleichbarer Weise geplant ist, sie zu „eliminieren“. Zugleich ist es eine unglaubliche Verharmlosung des Holocaust, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen mit einer angeblichen Diskriminierung von „Weißen“ oder Deutschen in Zusammenhang zu bringen.
(25) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/cdu-praesidium-maassen-parteiaustritt-100.html. Zu weiteren Äußerungen Maaßens in Organen der Neuen Rechten siehe: https://taz.de/Hans-Georg-Maassens-Weltsicht/!5771469/
(26) Zum Kriegsverbrecher Brunner: Spiegel> Politik> Nationalsozialismus> Warum SS- Verbrecher Alois Brunner nie vor Gericht kam 26.2.2017; Georg Hafner, Esther Schapira: Die Akte Alois Brunner. 2000; zum Streit um die Akteneinsicht: https://www.jankorte.de/de/article/3198670.bundesregierung-muss-endlich-alle-geheimdienstakten-%C3%BCber-ns-verbrecher-offenlegen.html
(27) Zu Chemnitz und Kurnaz siehe: https://www.fr.de/politik/verfehlungen-geheimdienstchefs-11038166.html
Fotonachweise:
Abdulkerim Şimşek und Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess am 11. Juli 2018 in München: Henning Schlottmann (User:H-stt), Kein Schlussstrich 5351, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=71031384
Waffen und Agitationsmaterial rechter Gewalttäter*innen – dennoch bleiben sie immer wieder straffrei: IMAGO / Reinhard Kurzendörfer, https://www.imago-images.de/
Gedenkdemonstration anlässlich des ersten Jahrestages des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau in Berlin: IMAGO / snapshot, https://www.imago-images.de/