Die rassistischen Morde von Hanau

Am 19. Februar 2020 ermordet ein Rechtsterrorist in Hanau 10 Menschen: Die Ermordeten heißen Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu. Damit umfasst die Todesliste rechter Gewalt seit 1990 mehr als 200 Opfer.

„Für uns ist die Welt stehen geblieben“ – die Morde von Hanau

Was ist geschehen? Am Abend des 19. Februar, kurz vor 22 Uhr, erschießt der 43-jährige Tobias R. in zwei verschiedenen Bars in der Innenstadt und auf der Straße drei Männer: Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Sedat Gürbüz. Danach steigt er in sein Auto und fährt zum Kurt-Schumacher-Platz im Hanauer Stadtteil Kesselstadt. Dort erschießt er zunächst Vili Viorel Păun, der ihm gefolgt ist und verzweifelt versucht, den Polizeinotruf zu erreichen. In einer Bar und in einem Kiosk erschießt der Attentäter fünf weitere Menschen: Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi. Dann fährt er nach Hause. In den frühen Morgenstunden des 20. Februar führen Hinweise aus der Bevölkerung die Polizei zum Wohnhaus des Täters; dort finden die Beamten den Attentäter; er hat erst seine Mutter und dann sich selbst getötet. (1)

Unter der Friedensbrücke in Frankfurt erinnert ein 27 Meter langes Gedenk-Graffiti an die Opfer des Attentats in Hanau am 19. Februar 2020

Die Nachricht von den Schüssen verbreitet sich schnell. Die Polizei richtet in einer Turnhalle eine Informationsstelle für Menschen ein, die nach ihren Angehörigen suchen. Unter den Wartenden ist die Familie Kurtović. Sie wartet auf Nachrichten. Irgendwann am frühen Morgen des 20. Februar, erzählt Ajla Kurtović, habe dann jemand eine Liste mit den Todesopfern der Schießerei verlesen. Darunter der Name ihres Bruders: Hamza Kurtović. Er wurde 22 Jahre alt.

Für uns ist die Welt in diesem Moment stehen geblieben“, sagt Ajla Kurtović. (2)

Februar 2021, ein Jahr später: noch immer, sagt Ajla Kurtović, wüssten sie, ihre Familie und die Angehörigen der anderen Opfer nicht, was genau in jener Nacht passiert ist. Zu viele Fragen sind offengeblieben, um abschließen zu können.

Auch Armin Kurtović drängt auf Antworten. Er habe sich am Grab seines Sohnes geschworen:

Ich werde nicht ruhen, bevor alles aufgeklärt ist. Nichts bringt mir mein Kind zurück. Aber wenn Konsequenzen aus dem Anschlag gezogen werden, weiß ich, dass Hamza nicht umsonst getötet wurde. (3)

Und wieder: viele Fragen – wenig Antworten

Ungeklärt sind aus Sicht der Angehörigen vor allem folgende Fragen: (4)

Warum konnte der Täter, nachdem er bereits drei Menschen erschossen hatte, in sein Auto steigen, zum nächsten Tatort fahren und dort weitermorden? Wie konnte es sein, dass der Polizeinotruf in der Tatnacht trotz einer fehlenden Rufumleitung nicht durchgängig besetzt war, so dass er für Vili Viorel Păun nicht erreichbar war?

Wie konnte der Täter einen Waffenschein erwerben, obwohl er laut einem psychiatrischen Gutachten Wahnvorstellungen hatte? Warum sind die vorliegenden Informationen nicht an die zuständige Behörde in Gelnhausen weitergeleitet worden? Hätten bei dieser Behörde nicht alle Alarmglocken läuten müssen, nachdem kurz vorher im benachbarten Wächtersbach ein Sportschütze aus rassistischen Motiven einen Mordanschlag auf den aus Eritrea geflüchteten Bilal M. verübt hatte?

Wäre eine Rückfrage bei der Waffenbehörde nicht zwingend gewesen, als der Täter bei der Polizei Anzeigen stellte, die auf offensichtliche Wahnvorstellungen hinwiesen? Hätte das Durchleuchten des Umfeldes und der Aktivitäten des Täters nicht rechtzeitig auf seine Internetseite geführt, in der er von Volksgruppen schreibt, „deren Existenz an sich ein grundsätzlicher Fehler ist“ und die deshalb „komplett vernichtet werden“ müssten? (5)

Warum war der Notausgang in der Shisha-Bar verschlossen? Warum wird von den Behörden erst ermittelt, nachdem Angehörige Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gestellt haben?

Warum wird nicht gegen den Vater des Täters ermittelt, obwohl dieser die rassistischen Ansichten seines Sohnes teilt und geäußert hat, eine Wiederherstellung der angeblich verletzten Grundrechte seiner Familie „wird mehrere Menschenleben einfordern“. (6)

Besonders belastend für die Angehörigen ist, dass es wegen des Suizids des Attentäters kein Gerichtsverfahren geben wird. Damit besteht für sie auch keine Hoffnung, im Rahmen eines Prozesses weitere Aufklärung zu erhalten.

„Unsere Kinder sollen nicht umsonst gestorben sein“. (7) Auch deshalb hat Serpil Temiz Unvar, Mutter des ermordeten Ferhat Unvar, eine Initiative für antirassistische Bildung gegründet, die nach ihrem Sohn benannt ist. Die Initiative soll „einen respektvollen Umgang“ und ein „Leben in Sicherheit“ fördern. Der allgegenwärtige Rassismus sei nicht angeboren, sondern entstehe in der Gesellschaft. Serpil Unvar:

Wir haben uns auf einen langen Weg gemacht, um mal sagen zu können: Ferhat, es hat sich gelohnt. (8)

Abdullah Unvar, der Onkel von Ferhat Unvar, kandidiert für den Bundestag. Er will sich entschieden gegen Rassismus und Faschismus engagieren und dabei besonders auch soziale Schieflagen in den Blick nehmen, die den Rechten in die Hände spielen – wie fehlende bezahlbare Wohnungen und prekäre Arbeitsverhältnisse. (9)

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Gedenkdemonstration anlässlich des ersten Jahrestages des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau in Berlin

„Wir wollen endlich Taten sehen“

Haben die Morde von Hanau die Zivilgesellschaft wachgerüttelt und die Politik endlich zu entschiedenem Handeln veranlasst?

An Worten hat es nicht gefehlt. So sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum ersten Jahrestag der Morde:

Ich habe es vor einem Jahr gesagt und wiederhole es voller Überzeugung heute: Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift. (10)

Sind aber den Worten Taten gefolgt? Was muss anders und besser werden?

Die zu diesem Zeitpunkt regierende, von CDU/CSU und SPD gebildete Bundesregierung hat am 12.5.2021 ein Programm mit 89 Maßnahmen gegen Rassismus und Rechtsextremismus in einem finanziellen Umfang von mehr als einer Milliarde Euro verabschiedet.

Dieses Programm wurde allerdings vor allem aufgrund von Einwänden aus der CDU und CSU nicht in ein Gesetzgebungsverfahren eingebracht und deshalb nicht wirksam. Die seit Dezember 2021 regierende Koalition von SPD, Grünen und FDP hat sich in ihrer Koalitionsvereinbarung auf ein Gesetz zur Förderung zivilgesellschaftlicher Organisationen und Verbände geeinigt, die sich für den Erhalt und Ausbau der Demokratie und gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus einsetzen. Das Demokratiefördergesetz wurde am 14.12.2022 von der Bundesregierung verabschiedet und in den Bundestag eingebracht. Nach der ersten Lesung im März 2023 hat sich allerdings nichts mehr getan. Diversen Presseberichten zufolge ist der Stillstand vor allem auf Einwände aus der FDP zurückzuführen. Damit ist auch die finanzielle Grundlage vieler Initiativen zur Demokratieförderung, die eigentlich nachhaltig gesichert werden sollte, in Frage gestellt. Es zeichnet sich die Gefahr ab, dass ein wichtiges Vorhaben zur Demokratieförderung letztlich auf die lange Bank geschoben, zerredet, inhaltlich entkernt und finanziell ausgetrocknet wird.

Wichtig ist deshalb, nicht nur auf eine zügige Realisierung des Gesetzes zu drängen, sondern auch dessen inhaltlicher Verwässerung und finanzieller Beschneidung entgegenzutreten. Gültig bleiben weiterhin die von der Amadeu Antonio Stiftung formulierten Erwartungen:

Es kommt jetzt darauf an, diese Maßnahmen auch umzusetzen – anders als die vielen Empfehlungen der NSU-Untersuchungsausschüsse im Bund und in den Ländern. Vermissen lässt das Maßnahmenpaket allerdings eine Gesamtstrategie und das klare Ziel, rechtsextremen Tätern das Leben schwer zu machen, Racial Profiling wirklich zu beenden, antisemitischen Verschwörungserzählungen gezielt entgegenzutreten – und die Umsetzung dieser Strategie auch zu kontrollieren. (11)

Für Mathias Quent, Leiter des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, kommt das Maßnahmenpaket „um Jahre zu spät“. Allerdings werde anders als bei vorausgegangenen Anschlägen von Öffentlichkeit und Politik „der Rassismus als Problem benannt“. Dies sei ein „Meilenstein“.

Immerhin ist der Rassismus seit Jahrzehnten und Jahrhunderten eine extrem prägende, aber offiziell kaum beachtete Realität. (12)

Antje Arndt sieht aus der Perspektive der mobilen Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt nach wie vor großen Handlungsbedarf:

Ich will nicht sagen, dass es nicht Polizeien und Staatsanwaltschaften und Gerichte gibt, wo ein Sensibilisierungsprozess eingetreten ist. Aber in den Fällen, mit denen wir es zu tun haben, müssen wir leider feststellen, dass Tatmotive nicht gesehen werden, dass schlecht ermittelt wird, dass Strafverfahren verschleppt werden oder sogar faktische Straffreiheit herrscht, weil über Jahre kein Gerichtsverfahren stattfindet, obwohl die Täter:innen identifiziert sind. (13)

Arndt: Die faktische Straffreiheit durch verschleppte Gerichtsverfahren sendet das Signal an die Täter „Uns passiert ja doch nichts“. (14) Dies sei eine Einladung zu weiteren Gewalttaten.

Pitt von Bebenburg schreibt im Leitartikel der Frankfurter Rundschau zum ersten Jahrestag der Morde:

Nicht erst seit Hanau müssen wir gegen Rechtsterrorismus kämpfen. Es ist ein Kampf um unsere Demokratie.

Der Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus ist eine Daueraufgabe. Es braucht dafür den ‚Aufstand der Anständigen‘, wie Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder schon 2000 betonte. Und erst recht, den ‚Anstand der Zuständigen‘, den Steinmeier, damals SPD-Fraktionschef, 2011 einforderte.

Mit dem Bekanntwerden rechtsextremer Chatgruppen auf Polizeistationen und mit Drohmail-Serien und den illegalen Abfragen von Polizeirechnern zeigt sich, dass es extrem rechtes Denken sogar unter jenen gibt, die für Schutz sorgen sollen. Zudem wird mehr und mehr aufgedeckt, dass terroristische Gefahr nicht nur von verschwörungsideologischen Fanatikern wie dem Täter von Hanau ausgeht oder von organisierten Neonazis wie dem NSU. Militante Rechtsradikale, die bei der Bundeswehr und der Polizei ausgebildet wurden, haben sich bewaffnet und bereiten sich auf den ‚Tag X‘ vor, an dem sie die Demokratie beseitigen und politische Gegnerinnen und Gegner töten wollen. Nie hat sich so deutlich gezeigt, wie bedrohlich der Rassismus für die gesamte Gesellschaft ist. (15)

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Eine Demonstration gegen Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien in München, 2020

Der Hessische Landtag hat inzwischen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den rassistischen Morden in Hanau eingerichtet, der am 14.7.2021 seine Arbeit aufgenommen hat. Die Arbeit des Ausschusses ist gegenwärtig noch im Gange. Regelmäßige Informationen sind über die Homepage der Initiative 19. Februar und die Frankfurter Rundschau zugänglich.

Eine wesentliche Rolle bei der Beurteilung der Verantwortlichkeiten könnte eine detaillierte Rekonstruktion der Abläufe in der Arena-Bar durch die Recherchegruppe Forensic Architecture spielen. Danach hätten sich vier der Getöteten durch den Notausgang retten können. Einen solchen Versuch haben die Ermordeten jedoch gar nicht erst unternommen, da ihnen bekannt war, dass der Notausgang häufig abgeschlossen war. (16)

Mehr über die Hanauer Morde, aktuelle Entwicklungen und Aktionen erfährst Du regelmäßig über die Homepage der Initiative 19, Februar Hanau: https://19feb-hanau.org/

Die Berichte der Frankfurter Rundschau sind zusammengefasst unter: https://www.fr.de/rhein-main/terror-in-hanau-sti1519756/

Das Video mit der Rekonstruktion durch Forensic Architecture ist zu sehen unter: https://vimeo.com/657458962?embedded=true&source=vimeo_logo&owner=8517395

Zum dritten Jahrestag der Morde von Hanau hat die Frankfurter Rundschau ein interaktives Web-Special veröffentlicht, in dem Hergang, Hintergründe und die bisherige Aufarbeitung der Morde zusammengefasst sind.

Das Special „Die Wunden von Hanau – Der rassistische Terroranschlag vom 19. Februar 2020“ findet sich unter: https://frstory.de/hanau/

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Zum Geschehen am 19. Februar 2020: siehe Chronik der Amadeu Antonio Stiftung: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/

(2) Zit. nach Berliner Zeitung: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/rassistische-morde-in-hanau-die-nacht-als-die-welt-stehenblieb-li.140706

(3) https://www.fr.de/politik/ich-werde-nicht-ruhen-90201841.html

Siehe auch ein Interview mit Serpil Temiz Unvar, der Mutter des ermordeten Ferhat Unvar: https://www.fr.de/politik/sein-tod-kann-nicht-das-ende-sein-90254311.html

(4) siehe dazu: https://www.fr.de/rhein-main/terror-in-hanau-sti1519756/ weiterhin: Deutschlandfunk „Trauer und Wut über mangelnde Aufarbeitung“ https://www.deutschlandfunk.de/ein-jahr-nach-dem-rassistischen-anschlag-von-hanau-trauer.724.de.html?dram:article_id=492640; https://www.sueddeutsche.de/politik/hanau-attentat-1.5492551

(5) zit. nach FR, 3./14. 2. 2021, Magazin S. 4

(6) ebd.

(7), (8) https://www.fr.de/politik/sein-tod-kann-nicht-das-ende-sein-90254311.html Interview mit Serpil Temiz Unvar; mehr zur bildungsinitiative: https://www.bildungsinitiative-ferhatunvar.de/

(9) https://www.vorwaerts.de/artikel/anschlag-hanau-abdullah-unvar-spd-engagiert

(10) zit. nach Deutschlandfunk s. Anm. 2)

(11) zit. nach: https://www.fr.de/politik/wie-geht-es-weiter-90214396.html

(12) Mathias Quent, fr, 21.2.2021. Das gesamte Interview unter: https://www.fr.de/politik/hanau-rechtsterror-anschlag-rassismus-polizei-90213057.html

(13) Das gesamte Interview mit Antje Arndt unter: https://www.fr.de/politik/wir-stehen-in-der-aufarbeitung-von-rechtem-terror-noch-ganz-am-anfang-90211600.html

(14) ebd.

(15) https://www.fr.de/meinung/kommentare/hanau-gedenken-opfer-rechtsterror-rassismus-jahrestag-anschlag-polizeiversagen-90209667.html

(16) https://www.fr.de/rhein-main/hanau-neue-hinweise-zum-notausgang-91588854.html; https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/die-wahrheit-sie-ist-hier-in-diesem-raum-91589232.html

 

Fotonachweise:

Unter der Friedensbrücke in Frankfurt erinnert ein 27 Meter langes Gedenk-Graffiti an die Opfer des Attentats in Hanau am 19. Februar 2020: IMAGO / Marcel Lorenz, https://www.imago-images.de/

Gedenkdemonstration anlässlich des ersten Jahrestages des rechtsterroristischen Anschlags von Hanau in Berlin: IMAGO / snapshot, https://www.imago-images.de/

Eine Demonstration gegen Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien in München, 2020: IMAGO / ZUMA Wire, https://www.imago-images.de/