Das Stigma blieb – die vergessenen Opfer

„Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet.“

Dieser Satz sollte eigentlich selbstverständlich sein. Er ist es nicht. Der Deutsche Bundestag brauchte 75 Jahre, um in einer Entschließung anzuerkennen, dass allen Inhaftierten in Konzentrationslagern Unrecht angetan wurde. Erst 2020 wurden die letzten Opfergruppen in den Vernichtungslagern rehabilitiert: die sogenannten „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“.

„Arbeit macht frei“ – Eingangstor des KZ Auschwitz
Dnalor 01, Eingangstor des KZ Auschwitz, Arbeit macht frei (2007), CC BY-SA 3.0 AT, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26547566

„Gesundes Volksempfinden“ als Haftgrund

Als die Nazis die ersten Konzentrationslager errichten, sind zunächst die Häftlinge mit den schwarzen Winkeln auf der Kleidung nach den politischen Häftlingen die größte Gruppe. Der schwarze Winkel steht für „Asoziale“.

Was dies konkret bedeutet und wen dies betrifft, ist nirgendwo festgehalten. Als „asozial“ gelten Bettler und Bettlerinnen und Obdachlose, oft Kriegsversehrte (soweit sie keine gut versorgten Offiziere waren), Traumatisierte (die sogenannten „Kriegszitterer“), Prostituierte, Sinti und Sintizze und Roma und Romnja, Wanderarbeiter und -arbeiterinnen, Arbeitslose, Alkoholkranke oder Arbeitsunfähige, die als „arbeitsscheu“ abgewertet werden. Die erste Verhaftungswelle beginnt 1933 mit den sogenannten Bettlerrazzien. Die zweite Verhaftungswelle findet 1938 unter der Bezeichnung „Aktion Arbeitsscheu“ statt. Die „Asozialen“ werden von den Nazis als „Volksschädlinge“ geschmäht. Zu diesem Zweck stellen sie demagogisch gegenüber, was eine Arbeiterfamilie der „Volksgemeinschaft“ einbringt und was die Familie einer Trinkerin den Staat kostet. Zudem behaupten sie, dass „asozial sein“ erblich sei und durch die Verfolgung „Asozialer“ ausgerottet werden könne.

Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern

„Berufsverbrecher“ ist ebenfalls ein von den Nazis geprägter Begriff ohne konkreten Inhalt. Da Schwerverbrechen weiterhin mit Gefängnishaft oder dem Tod bestraft werden, sind es in der Regel kleine Vergehen, oft von Jugendlichen, die zur KZ-Haft führen. Oft werden Menschen, die eine Gefängnisstrafe bereits verbüßt haben, unmittelbar danach erneut verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht. Da die Nazis der Meinung sind, Kriminalität sei ein ererbtes und unabänderliches Charaktermerkmal, internieren sie durch die sogenannte Vorbeugehaft häufig Menschen allein aufgrund der Vermutung, sie könnten irgendwann kriminell werden. „Berufsverbrecher“ werden mit dem grünen Winkel gekennzeichnet.

Mit der Inhaftierung von Menschen aus stigmatisierten Gruppen nutzen die Nazis bewusst weit verbreitete Vorurteilsstrukturen in der Bevölkerung. Sie setzen auf das „gesunde Volksempfinden“, nach dem man „Arbeitsscheue“ umerziehen und „Berufsverbrecher“ wegsperren müsse. Die Konzentrationslager erscheinen so als „Besserungsanstalten“, wodurch ihre Akzeptanz in der Bevölkerung wächst.

Wie viele Menschen im Nationalsozialismus unter dem schwammigen Begriff des „Asozialen“ oder „Berufsverbrechers“ verfolgt, geknechtet und getötet wurden, ist bis heute unklar. Die wenigsten der Opfer sind überhaupt bekannt, eine seriöse Schätzung ihrer Zahl gibt es nicht. (1)

Vergessene Opfer

Die Opfer sind vielfach unbekannt geblieben. Auch nach dem Krieg wurde ihnen oft nur geringes Interesse entgegengebracht. Deshalb gibt es nur wenige Zeugnisse über das Schicksal von Menschen, die als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslagern interniert wurden.

Heinrich Wilhelm Schäfer

Heinrich Wilhelm Schäfer, geboren am 1. Januar 1902, wohnte Am Krekel 3, dem damaligen „sozialen Brennpunkt” Marburgs. Der gelernte Elektriker und Heizer stand seit seinem 13. Lebensjahr im Konflikt mit dem Gesetz, weil er Straftaten wie Einbruch und Diebstahl begangen hatte. Nach mehreren Aufenthalten in Gefängnissen wird er unter dem Nazi-Regime zum „Berufsverbrecher” erklärt und zum Tode verurteilt: er habe geäußert, dass das deutsche Volk den Krieg nicht gewinnen würde. Dies gilt als Hochverrat und Wehrkraftzersetzung.

Ein Gedenkstein wurde am 16.11.2006 verlegt.

Am 6. Juni 1944 wird Heinrich Wilhelm Schäfer im Strafgefängnis Frankfurt-Preungesheim enthauptet. Er hinterließ seine Frau und mehrere Kinder.

Auch sein Vater und sein Bruder sterben in Konzentrationslagern. Der Vater Philipp Schäfer (*1879) ist Mitglied der SPD. Er wird 1937 verhaftet und 1939 nach Mauthausen verschleppt. Von 1939 bis zu seinem Todestag am 7. Mai 1942 ist er im Konzentrationslager Dachau interniert.

Der Bruder Emil Schäfer stirbt im „Arbeitserziehungslager“ Breitenau. (2)

Selma Klein

Auch Selma Klein gehört zu den Opfern, die aus mehreren Gründen verfolgt und ermordet werden. Ihr Fall zeigt besonders die Willkür und den Vernichtungswillen gegenüber Menschen, die nicht dem Bild der „überlegenen arischen Rasse“ entsprechen, sondern als „anders“, „asozial“ und „minderwertig“ gelten.

Die 1909 in Frankfurt geborene Selma Klein wächst durch die Krankheit und den frühen Tod der Mutter unter bedrückenden Umständen auf. Sie kommt als 17-jährige in Fürsorgeerziehung und gilt den Behörden bald als „asozial“. Aufenthalte in Fürsorgeeinrichtungen und Entlassungen wechseln sich ab. 1930 wird Selma Klein schwanger. Ihr Kind wird im siebten Monat geboren und stirbt an den Folgen einer Geschlechtskrankheit, mit der der nicht bekannte Vater Selma infiziert hat. Da Selma Klein jüdischer Abstammung ist, erschwert sich ihre Situation nach 1933 noch mehr. Positive Zeugnisse werden ignoriert. Stattdessen wird ihr entsprechend den gängigen antisemitischen und sozialdarwinistischen Stereotypen vorgeworfen, ihren Behandlungs- und Meldepflichten wegen ihrer Infektion nicht nachzukommen, ihre Arbeitsstellen ständig zu wechseln, „arbeitsscheu“, trotzig und verlogen zu sein, ein sexuell ausschweifendes Leben zu führen und sich zu prostituieren. Durch den sexuellen Verkehr mit einem „Arier“ macht sie sich 1935 der „Rassenschande“ schuldig. Obwohl geistig unauffällig, wird ihr aufgrund ihrer Lebensführung „angeborener Schwachsinn“ attestiert und damit eine Zwangssterilisation nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ angeordnet. Betrieben wird die Zwangssterilisation vor allem von der Anstalt Hadamar, deren Leiter Otto Henkel die konsequente „Ausmerzung der Entarteten und Erhaltung und Förderung der Hochwertigen“ fordert. Der Eingriff wird am 3. November 1937 durchgeführt. 1941 wird Selma Klein im KZ Ravensbrück eingesperrt. Dort wird sie Opfer der Aktion 14f13 – eine Tarnbezeichnung für die Selektion und Tötung von Häftlingen, die als nicht arbeitsfähig eingestuft wurden. Wie etwa 1600 weitere Frauen wird Selma Klein in die Tötungsanstalt Bernburg verbracht und dort in der Gaskammer ermordet.

Selma Klein wird nur 32 Jahre alt. Von ihrer Familie überlebt ihre Schwester Mathilde, die einen als „arisch“ geltenden Mann geheiratet hatte und in einer sogenannten Mischehe lebt. Selmas Vater Isaak Klein wird 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt verbracht und verhungert dort. Die dritte Schwester Frieda Weingärtner geb. Klein wird 1944 von der Gestapo festgenommen, nach Auschwitz deportiert und ermordet. (3)

Zu Recht im Konzentrationslager?

Ernst Nonnenmacher

Ein weiteres Opfer ist Ernst Nonnenmacher, dessen Geschichte sein Neffe, der Frankfurter Hochschullehrer Frank Nonnenmacher, in dem Buch „Du hattest es besser als ich. Zwei Brüder im 20. Jahrhundert“ beschreibt.

Ernst Nonnenmachers Kindheit ist von Hunger und bitterer Armut geprägt. Wegen einiger kleiner Diebstähle wird er zum „Berufsverbrecher“ erklärt und in das Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht. Dort überlebt er, weil er als gelernter Korbflechter Behälter herstellen kann, die für den Munitionstransport an die Front geeignet und deshalb „kriegswichtig“ sind.

Frank Nonnenmacher schreibt zur Geschichte seines Onkels:

Am 27. Januar wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit, der Ort, an dem die Nazis Millionen Menschen systematisch und planvoll ermordet haben. Die Befreier, Soldaten der Roten Armee, fanden nur noch etwa 7000 geschwächte Menschen vor, von denen viele noch in den folgenden Wochen und Monaten starben.

An jenem 27. Januar 1945 befand sich mein Onkel Ernst Nonnenmacher noch im KZ Sachsenhausen. Er und die anderen Häftlinge waren über die militärische Entwicklung im Bilde, sie wussten von der Befreiung des KZ Auschwitz und hofften auf ein schnelles weiteres Vordringen der Roten Armee.

Aber mein Onkel Ernst musste noch zwei Monate und 26 Tage warten, bis sowjetische und polnische Soldaten am 22. April auch das Konzentrationslager Sachsenhausen befreiten. Sie fanden noch 3000 geschwächte und nicht mehr gehfähige Häftlinge vor. Über 30 000 Häftlinge – darunter Ernst – waren am Vortag von der SS in mehreren Kolonnen auf einen ‚Todesmarsch‘ getrieben worden.

Ursprüngliches Ziel: Sie sollten auf Schiffen in der Ostsee versenkt werden. (4)

Ernst Nonnenmacher überlebt den Todesmarsch. Er hofft und erwartet, dass mit seiner Befreiung und dem Ende des NS-Regimes seine Anerkennung als dessen Opfer und eine Entschädigung verbunden sein werden, die ihm den Start in ein neues Leben erleichtern. Ernst Nonnenmacher wird bitter enttäuscht. Anerkennung und Entschädigung werden ihm verweigert, die Ausgrenzung bleibt. Frank Nonnenmacher:

Mein Onkel litt bis zu seinem Lebensende unter dem Stigma, für die deutsche Gesellschaft zu Recht im KZ gewesen zu sein. (5)

Das Stigma blieb

Das Stigma überdauerte das Jahr 1945. Bundesregierung und Gerichte wollten die als „asozial“ Diffamierten nicht als Verfolgte des NS-Regimes anerkennen. In der Öffentlichkeit und oft auch im Umfeld der Opfer herrschte die Meinung vor, sie wären zu Recht interniert worden und an ihrem Schicksal selbst schuld. Damit wurde das Kalkül der Nazis übernommen, die mit der Inhaftierung von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ der Bevölkerung den Eindruck vermitteln wollten, die Konzentrationslager seien eine Art Erziehungs- und Besserungsanstalt, in die genau „die Richtigen“ gekommen seien.

Zur Stigmatisierung der als „Berufsverbrecher“ internierten Menschen trug auch die weit verbreitete Meinung bei, die SS hätte gezielt und vorrangig Schwerkriminelle als Funktionshäftlinge („Kapos“) in den Konzentrationslagern eingesetzt, die durch besondere Brutalität die Anordnungen der Lagerleitung durchgesetzt und die Häftlinge zur Arbeit angetrieben hätten. Diese Annahme trifft, wie neuere Forschungen zeigen, auf einen kleineren Teil der Häftlinge mit dem Schwarzen Winkel, nicht aber auf deren große Mehrheit zu. (6) Tatsächlich waren Häftlinge aller Gruppen in das System der Überwachung und Vernichtung eingebunden. Die Historikerin Karin Orth schreibt dazu:

Wohl kaum eine Maßnahme der SS war perfider als ihr Versuch, die Ausführung von Terror und Gewalt an die Opfer zu delegieren. (7)

Während andere Opfergruppen sich öffentlich um Rehabilitierung und Entschädigung bemühten und dabei Fürsprecher und Unterstützung fanden, blieben die als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ Gebrandmarkten isoliert. Viele scheuten schon deshalb die Öffentlichkeit, weil sie fürchteten, sich bloßzustellen und weiteren Demütigungen auszusetzen. Vielfach hatten sie auch Angst, Arbeit und Wohnung zu verlieren. Rehabilitiert wurden sie erst ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ende des NS-Regimes. (8) Nahezu alle Betroffenen waren zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben.

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Tätowierte Nummer eines ehemaligen Ausschwitz-Häftlings

Der Rehabilitierung durch den Deutschen Bundestag ging eine Petition voraus, die Frank Nonnenmacher und eine Gruppe von Historikern initiiert hatten.

Als es nach der deutschen Vereinigung 1990 zu einer Welle rechter Gewalt kam, gehörten erneut Obdachlose, Bettler und Bettlerinnen und Kranke – also die Opfergruppen, die von dem NS-Regime mit dem schwarzen Winkel gekennzeichnet wurden – zu den bevorzugten Zielscheiben von Neonazis und Skinheads. Die NS-Propaganda von den „Asozialen“, „Volksschädlingen“ und „Parasiten“, die es auszurotten gelte, wirkte auch ein halbes Jahrhundert nach den NS-Verbrechen weiter. Und wieder war es diese Opfergruppe, die am wenigsten Aufmerksamkeit und Solidarität erfuhr und dadurch erneut schutzlos gestellt wurde.

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

1) Ann-Kathrin Büüsker: „,Asoziale` im Nationalsozialismus. Die letzten vergessenen Opfer“, 2015 https://www.deutschlandfunk.de/asoziale-im-nationalsozialismus-die-letzten-vergessenen.724.de.html?dram:article_id=322567

(2) Über Heinrich Schäfer siehe: Marburger Geschichtswerkstatt https://www.geschichtswerkstatt-marburg.de/projekte/schaef.php

(3) Eine ausführliche Biografie zu Selma Klein ist zu finden unter: https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20415/Familie%20von%20Selma%20Klein%20aus%20Frankfurt%20072016.pdf, dieser Biografie entstammen auch die hier verwendeten Daten und Zitate.

(4) Frank Nonnenmacher: „Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: Was bedeutet mir der 27. Januar?“, 2021 https://www.fr.de/meinung/gastbeitraege/befreiung-auschwitz-gastbeitrag-was-bedeutet-mir-der-27-januar-90180161.html

(5) Ebd.

(6) Siehe Karin Orth, Gab es eine Lagergesellschaft?

(7) Ebd., S. 111

(8) Vorausgegangen war der Rehabilitierung eine Petition an den Deutschen Bundestag. Hier der Wortlaut: https://www.change.org/p/deutscher-bundestag-anerkennung-von-asozialen-und-berufsverbrechern-als-opfer-des-nationalsozialismus

 

Fotonachweise:

„Arbeit macht frei“ – Eingangstor des KZ Auschwitz: Dnalor 01, (2007), CC BY-SA 3.0 AT, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26547566

Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern: Unbekannter Autor, Kennzeichen für Schutzhäftlinge in den Konzentrationslagern, United States Holocaust Memorial Museum, Washington, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=774892

Tätowierte Nummer eines ehemaligen Auschwitz-Häftlings: Air Force photo by Rudy Purificato, Auschwitz survivor displays tattoo detail, gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6599710