Die Sinti und Sintizze aus Dreihausen und ihr Weg nach Auschwitz

Im Spätsommer 1942 verbringt die damals 26-jährige Agnes Blanke mehrere Wochen bei ihrer Verwandtschaft in Dreihausen bei Marburg. Sie freundet sich dort mit Kindern aus Sinti-Familien an, die mit ihren Eltern am Ortsrand wohnen. Die Erlebnisse des Sommers hält sie in vielen Fotos fest. Damals ahnt sie noch nicht, dass die Fotos ihre letzte Erinnerung an die Kinder sein werden.

Ausgrenzung, Deportation und Ermordung der Dreihäuser Sinti und Sintizze

Alt text
Drei Sinti-Familien aus Dreihausen

Von links nach rechts: Christine Kreutz, Anna (Hartli) Kreutz, Berta Steinbach, Marianne Steinbach, Frieda Steinbach, Friedrich Winter, Theo Kreutz, Siegfried Steinbach

Die Vorzeichen der Deportation sind längst erkennbar. Die Sinti-Kinder sind ausgegrenzt. Sie dürfen nicht mit anderen Kindern ins Schwimmbad und bald auch nicht mehr in die Schule. Die Polizei hat sie bereits als „Vollzigeuner“ registriert und mit den entsprechenden Ausweisen ihre Deportation vorbereitet.

Agnes Blanke verabschiedet sich mit dem Versprechen, im nächsten Sommer wieder zu kommen. Im Sommer 1943 sind dann allerdings die Kinder mit ihren Familien nicht mehr da. Nachbarn erzählen ihr, die Familien seien abgeholt worden und würden nun wahrscheinlich in Polen leben.

Erst nach dem Krieg erfährt Agnes Blanke die grausame Wahrheit. Die Familien wurden in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert. Von den 18 Angehörigen der Familien Kreutz und Steinbach haben nur drei überlebt.

Alle anderen sind in Auschwitz umgekommen, die meisten in den Gaskammern. Der 14-jährige Theo Kreutz wurde erschlagen. Sein Bruder Hermann, damals 20, überlebte schwer geschädigt Menschenversuche mit Fleckfieberbazillen. (1)

1998 schrieb Agnes Blank zum Gedenkbuch „Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“: (2)

Ich weiß nun, dass rund 500 000 Zigeuner durch die Nazis ermordet wurden. Fünfhunderttausend – ist diese Zahl noch vorstellbar? Wer kann sie fassen? Doch wenn ich die Bücher aufschlage, beginnt die riesige Zahl lebendig zu werden. Namen – Namen – Namen. Viele tausend Namen sind es, und jeder Name ist das Zeichen für einen einmaligen Menschen. Auf manchen Listen steht derselbe Familienname von oben bis unten. Die ganze Sippe wurde vernichtet. Die meisten Kinder, die in Birkenau geboren wurden, starben innerhalb weniger Tage.

Dass diese Listen wenigstens teilweise der Vernichtung durch die SS entgingen, ist zwei Häftlingen zu verdanken, die Bücher des Lagers aus der Schreibstube entwendeten und in einem Eimer vergruben. Allerdings sind auch die geretteten Listen unvollständig. Oft wurden Häftlinge ohne jede Registrierung erschossen oder in den Gaskammern ermordet.

Von der Entrechtung zum Völkermord

Die Nationalsozialisten konnten sich auf tief verwurzelte Vorurteile gegen Sinti und Sintizze und Roma und Romnja stützen. Sie waren über Jahrhunderte rechtlos gestellt und zur Dauermigration gezwungen. Ab dem 19. Jahrhundert konnten sie sich niederlassen, waren aber sozial geächtet und wurden in städtische oder dörfliche Randgebiete abgedrängt. 1906 gab es eine preußische „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, die in der Weimarer Demokratie und später von den Nazis übernommen wurde. Ab 1927 wird zuerst in Preußen, danach im gesamten Reichsgebiet mit der Abnahme von Fingerabdrücken von Sinti und Sintizze und Roma und Romnja und der Ausstellung von „Zigeunerausweisen“ begonnen, was später ihre Erfassung erleichtert.

Alt text
Deportation von Sinti und Sintizze aus dem Einzugsbereich von Stuttgart am 22. Mai 1940

Die Nazis verschärfen die Maßnahmen gegen Roma und Romnja und Sinti und Sintizze auf mehreren Ebenen. Sie richten am Rande der Städte große „Zigeunerlager“ ein, die nicht verlassen werden dürfen. 1936 wird mit der Erstellung eines „Zigeunerarchivs“ begonnen, das alle „Vollzigeuner“, „Zigeunermischlinge“ und deren „Sippen“ erfassen soll. Immer wieder werden Sinti und Sintizze und Roma und Romnja, die neben „Asozialen“, „Berufsverbrechern“ und Prostituierten als „Volksschädlinge“ gelten, in Arbeits- und Konzentrationslager verschleppt – etwa im Rahmen der „Aktion arbeitsscheu“. Im Oktober 1939 folgt ein Erlass des Reichssicherheitshauptamtes, nach dem die „später festzunehmenden Zigeuner“ bis zu ihrem „endgültigen Abtransport“ in besonderen Sammellagern festzuhalten seien. Es wird ein allgemeines Verbot gegen Roma und Romnja ausgesprochen, ihren aktuellen Aufenthaltsort zu verlassen. Die Ortspolizeibehörden erhalten den Auftrag, die Betroffenen zu zählen und erkennungsdienstlich zu erfassen. 1942 sind die Arbeiten an dem Archiv, die nur durch die Unterstützung von Kirchen, Schulen und Jugendämtern möglich waren, abgeschlossen. Die Erfassung bildet die Grundlage für die nun massenhaft einsetzende Deportation und Ermordung von Roma und Romnja und Sinti und Sintizze. Zuständig für die Durchführung der Deportationen ist die Kriminalpolizei.

Roma und Romnja und Sinti und Sintizze galten wie Juden und Jüdinnen als „artfremd“. Deshalb sollte aus Gründen der „Rassenhygiene“ eine „Vermischung mit deutschem Blut“ verhindert werden – durch Isolation und Stigmatisierung, das pseudorechtliche Konstrukt der „Rassenschande“, durch Zwangssterilisation und später Ausrottung. Die von den Nazis aufgegriffene und längst vorher vorhandene, pseudowissenschaftliche „Erbbiologie“ wies zudem den Roma und Romnja und Sinti und Sintizze als unabänderliche, genetisch bestimmte Eigenschaft „Kriminalität“ zu. Sie wurden dadurch zu „geborenen Verbrechern“ erklärt, deren Ausrottung auch im Sinne einer „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ liegt.

Mit Propagandafotos dieser Art stempelten die Nationalsozialisten Sinti und Sintizze und Roma und Romnja zu „Untermenschen“ und versuchten damit, den Völkermord an ihnen zu rechtfertigen.

Mit dem Zweiten Weltkrieg beginnt die massenhafte Ermordung von Roma und Romnja und Sinti und Sintizze in den besetzten Gebieten in Südost- und Osteuropa durch die Einsatzgruppen und Wehrmachtsverbände. In Osteuropa leben weitaus mehr Roma und Romnja als in Deutschland. Sie gelten als potenzielle Partisanen und Spione. Mehr und mehr nehmen die Morde den Charakter eines Genozids an, dessen Ziel die Vernichtung der Roma als „Rasse“ ist. Dabei ist das Vorgehen gegen Roma und Romnja oft von besonderer Feindseligkeit und Grausamkeit bestimmt. Ab 1941 beginnen auch die massenhaften Deportationen aus dem Deutschen Reich in die Vernichtungslager. Die Gesamtzahl der ermordeten Sinti und Sintizze und Roma und Romnja liegt nach Angaben des Zentralrats der deutschen Sinti und Roma bei rund 500 000. (3)

Vorurteile und Diskriminierung bleiben

Über Jahrzehnte hinweg blieb der Völkermord an den Sinti und Sintizze und Roma und Romnja vom öffentlichen Gedenken ausgeschlossen. Die neu gegründete Bundesrepublik verweigerte den Opfern die moralische und rechtliche Anerkennung ebenso wie eine materielle Entschädigung. (3) Vielfach wurde – wie vom Bundesgerichtshof in dessen Urteil vom 7. Januar 1956 – behauptet, Sinti und Sintizze und Roma und Romnja seien aufgrund ihrer „asozialen Eigenschaften“ und nicht aus rassischen Gründen verfolgt worden. Die Zerrbilder der NS-Propaganda lebten nach 1945 ungebrochen fort. Die meisten ehemaligen Täter aus dem SS- und Polizeiapparat konnten auch in der Bundesrepublik Karriere machen. Manche waren dort erneut für die Sinti und Sintizze und Roma und Romnja zuständig.

Der Zentralrat der deutschen Sinti und Roma schreibt dazu auf seiner Homepage:

Der Holocaust an den Sinti und Roma wurde nach der Befreiung vom Nationalsozialismus jahrzehntelang aus dem historischen Gedächtnis und der öffentlichen Erinnerung verdrängt. In der neu gegründeten Bundesrepublik fand weder eine politische noch eine juristische Aufarbeitung dieses Völkermords statt. Im Gegenteil: die meisten der ehemaligen Täter konnten in Behörden oder in der Wirtschaft ungehindert Karriere machen… Den wenigen Überlebenden, körperlich und seelisch gezeichnet von Verfolgung und KZ-Haft, verweigerte der deutsche Staat die moralische und rechtliche Anerkennung ebenso wie eine materielle Entschädigung. (5)

Erst 1982 erkannte die Bundesregierung die NS-Verbrechen an Sinti und Sintizze und Roma und Romnja als „Völkermord“ an.

Alt text
Gedenkstätte für die deportierten und ermordeten Sinti in Dreihausen

Die Gedenkstätte entstand im Rahmen eines Projekts der Gesamtschule Ebsdorfergrund. Eine Gedenktafel ergänzt das Mahnmal.

Mehr unter: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, „Rassendiagnose: Zigeuner. Der Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung“: https://www.sintiundroma.org

Quellen, Hinweise und weitere Informationen

(1) Im Rahmen eines Unterrichtsprojekts der Gesamtschule Ebsdorfer Grund im Schuljahr 2006/07 und in Zusammenarbeit mit der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Dreihausen ist ein Film entstanden, das das Schicksal der Dreihäuser Sinti-Familien nachzeichnet: „Hartli und Schorseli, Theo und Häns … Sinti-Kinder in Dreihausen“, https://www.youtube.com/watch?v=EORIgTWUhaE
Mehr Infos zum Projekt erhalten Sie unter http://sintikinder-dreihausen.de/

(2) Gedenkbuch. Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz – Birkenau. Agnes Blanke zitiert nach: Mirko Meyerding, Geliebte Zigeunerkinder, S. 50

(3) Siehe dazu das Dokumentations- und Kulturzentrum der Deutschen Sinti und Roma:
https://dokuzentrum.sintiundroma.de/

(4) Durch ihre Deportation hatten die Häftlinge in den Vernichtungslagern die deutsche Staatsbürgerschaft verloren. Allein schon dadurch waren sie vom Bundesentschädigungsgesetz ausgeschlossen. Für die westdeutschen Behörden war der Zwangscharakter der Deportationen bei der Beurteilung der Staatsbürgerschaft nicht von Bedeutung. Die überlebenden Deportationsopfer galten also weiterhin als staatenlos. Sie waren dadurch Bürger minderen Rechts. Erst während der 1980er-Jahre wurde ihnen auf erheblichen Druck der Öffentlichkeit die deutsche Staatsbürgershaft zurückgegeben. Unabhängig davon blieben die Vorurteile vielfach bestehen.

(5) https://zentralrat.sintiundroma.de/

 

Fotonachweise:

Drei Sinti-Familien aus Dreihausen: Fotografie von Agnes Blanke, 1942.

Deportation von Sinti und Sintizze aus dem Einzugsbereich von Stuttgart am 22. Mai 1940: Bundesarchiv, R 165 Bild-244-42 / CC-BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5441614

Propagandafoto von Nationalsozialisten – Sinti- und Roma-Kinder: Bundesarchiv, Bild 183-2004-0203-501 / CC-BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5348331

Gedenkstätte für die deportierten und ermordeten Sinti und Sintizze in Dreihausen: eigene Fotos.